8.
Durch die gegebenen Ausführungen lebhaft angeregt, sprach ich: „Jedem Verständigen vermag deine Rede, die so einfach und schmucklos, dabei aber ganz folgerichtig fortschreitet, die Überzeugung beizubringen, daß du recht hast und in keinem Punkte von der Wahrheit abirrst. Da nun zwar denjenigen, welche für schulgerechte Beweisgänge eingenommen sind, die Schlußfolgerungen genügen, um zum Glauben daran zu gelangen, wir aber bekennen, die Beweisführung durch die in der Heiligen Schrift enthaltenen Lehren gebe eine größere Zuverlässigkeit als alle Künste der Schule, so müssen wir auch, wie ich meine, noch untersuchen, ob die gemachten Darlegungen mit der Heiligen Schrift übereinstimmen.“ Sie entgegnete: „Wer möchte bestreiten, daß in dem allein die Wahrheit liege, auf das das Siegel des Schriftzeugnisses aufgedrückt ist? Ist es also notwendig, S. 275 zur Bekräftigung unserer Darlegungen etwas aus der Lehre des Evangeliums beizubringen, so dürfte uns die Betrachtung der Parabel vom Unkraut (Matth. 13, 24) nicht unpassend sein.“
„Dort säte nämlich der Hausvater guten Samen (das Haus sind gewiß die Menschen), der Feind hingegen wartete den Schlaf der Leute ab und säte unter den nahrungbringenden Samen einen nutzlosen, d. h. Unkraut unter den Weizen. Beide Samenarten wuchsen miteinander auf; denn mit Naturnotwendigkeit mußte der in den Weizen gestreute Unkrautsame mit jenem aufgehen. Der Aufseher über das Feld verbot aber den Knechten, das Unkraut auszujäten, weil die Wurzeln beider Samen miteinander verwachsen waren, damit nicht mit der schlechten auch die gute Saat ausgerottet werde. Ich vermute nun, daß jene Seelenregungen mit den guten Samenkörnern gemeint sind, von denen bei guter Pflege jedes die Frucht der Tugend in uns hervorbringen wird. Da nun unter diese zugleich der Irrtum in der Beurteilung des Guten eingesät und durch die mitaufsprossende Saat des Irrtums das wahrhaft und seiner inneren Natur nach allein Gute verdunkelt wurde, ― denn die Begierde ist nicht zu dem wahrhaften Guten, dessentwegen sie auch uns eingepflanzt wurde, emporgekeimt und gewachsen, sondern ihr Keim hat sich zum Tierischen und Unvernünftigen gewendet, verleitet durch den Irrtum hinsichtlich dessen, was gut und begehrenswert ist; desgleichen ist auch der Same des Zornes nicht zur Tapferkeit aufgeblüht, sondern hat die Menschen bewaffnet zum Kampfe gegen die Mitmenschen, ebenso fiel die Macht der Liebe vom Geistigen ab, indem sie im Genuß des Sinnlichen verwilderte; und in ähnlicher Weise brachten auch die übrigen Bewegungen der Seele statt der guten oft schlechte Früchte hervor. ― Deshalb ließ der weise Ackersmann das mit dem guten Samen aufgegangene Gesproß des Unkrautes im Boden, in der Besorgnis, wir könnten höherer Güter beraubt werden, wenn mit dem schlimmen Gesproß die Begierde ganz und gar in uns beseitigt würde. Denn wenn dies der menschlichen Natur widerführe, was könnte uns dann zum Streben nach dem Himmlischen antreiben? Und wenn die Liebe in unserem Innern ausgerottet würde, S. 276 wie könnten wir uns dann mit Gott verbinden? Und wenn Zornesmut ausgelöscht würde, welche Waffe hätten wir dann noch gegen unseren Widersacher?“