25. Kap. Die Briefe des Dionysius.
Über die Apokalypse des Johannes sagt sodann Dionysius das Folgende: „Einige unserer Vorfahren haben das Buch verworfen und ganz und gar abgelehnt. Sie beanstandeten Kapitel für Kapitel und erklärten, daß der Schrift Sinn und Zusammenhang fehle und daß der Titel falsch sei. Sie behaupten nämlich, dieselbe stamme nicht von Johannes und sei überhaupt keine Offenbarung, da sie in den so dichten Schleier der Unverständlichkeit gehüllt sei. Der Verfasser dieser Schrift sei kein Apostel, ja überhaupt kein Heiliger und kein Glied der Kirche, sondern Cerinth, der auch die nach ihm benannte cerinthische Sekte gestiftet und der seiner Fälschung einen glaubwürdigen Namen geben wollte. S. 349 Denn das sei eben der Inhalt seiner Lehre, daß das Reich Christi ein irdisches sein werde. Und wonach er selbst, der in seinen Leib verliebt und ganz fleischlichgesinnt war, verlangte, darin würde — so träumte er — das Reich Christi bestehen, d. i. in der Befriedigung des Magens und der noch tiefer gelegenen Organe, also in Speise und Trank und ehelichen Genüssen und — wodurch er besseren Eindruck zu erwecken glaubte — in Festen, Opfern und Schlachtungen von Opfertieren. Ich aber möchte nicht wagen, das Buch zu verwerfen; denn viele Brüder halten große Stücke auf dasselbe. Ich möchte vielmehr glauben, daß es über meine Fassungskraft hinausgehe. Ich vermute nämlich, daß die einzelnen Sätze einen verborgenen und ganz wunderbaren Sinn in sich schließen. Wenn ich die Worte auch nicht verstehe, so ahne ich doch, daß ein tieferer Sinn in denselben liege. Ich messe und beurteile sie nicht nach meiner eigenen Klugheit, lege vielmehr dem Glauben ein höheres Gewicht bei und halte die Worte für zu erhaben, als daß sie von mir begriffen werden könnten. Und ich verwerfe nicht, was ich nicht erfaßt, bewundere es im Gegenteil um so mehr, eben weil ich es nicht begriffen.“ Nachdem Dionysius sodann das ganze Buch der Offenbarung geprüft und nachgewiesen hat, daß dieselbe nicht wörtlich aufgefaßt werden könne, fährt er also fort: „Am Schlusse der ganzen sog. Weissagung preist der Prophet sowohl diejenigen selig, welche dieselbe bewahren, als auch sich selber. ‚Selig’ — heißt es — ‚ist, wer die Worte der Weissagung dieses Buches bewahrt, und ich, Johannes,1 der dies sah und hörte.’2 Daß nun der Mann Johannes heiße und daß die Schrift von einem Johannes verfaßt sei, bestreite ich nicht. Denn ich gebe zu, daß sie das Werk eines heiligen und gotterleuchteten Mannes ist. Nicht jedoch möchte ich ohne weiteres zu- S. 350 gestehen, daß dieser Johannes der Apostel sei, der Sohn des Zebedäus, der Bruder des Jakobus, von welchem das Evangelium nach Johannes und der katholische Brief stammen. Aus dem Charakter jenes und dieser Bücher, aus der Art der Sprache und dem, was man die Durchführung des Buches nennt, schließe ich auf eine Verschiedenheit der Verfasser. Der Evangelist fügt nämlich nirgends seinen Namen bei und nennt sich weder im Evangelium noch im Briefe.“ Sodann fährt Dionysius also fort: „…Johannes aber nirgendwo, weder in der ersten noch in der dritten Person.3 Der Verfasser der Apokalypse aber setzt gleich an den Anfang seinen Namen:4 ‚Offenbarung Jesu Christi, welche er ihm gegeben hat, um sie schnell seinen Dienern zu zeigen. Und er machte kund und sandte durch seinen Engel Botschaft seinem Diener Johannes, der von dem Worte Gottes Zeugnis gab und Zeugnis von ihm über alles, was er sah.’ Hierauf schreibt er einen Brief:5 ‚Johannes an die sieben Kirchen in Asien: Gnade euch und Friede!’ Der Evangelist jedoch hat nicht einmal an den Anfang seines katholischen Briefes seinen Namen geschrieben, sondern einfach mit dem Geheimnisse der göttlichen Offenbarung selbst begonnen:6 ‚Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen haben.’ Gemeint ist jene Offenbarung, um derentwillen auch der Herr den Petrus seliggepriesen mit den Worten:7 ‚Selig bist du, Simon, Sohn des Jonas; denn nicht Fleisch und Blut hat es dir geoffenbart, sondern mein himmlischer Vater.’ Aber auch in dem sog. zweiten und dritten Johannesbriefe, so kurz sie sind, steht der Name Johannes nicht an der Spitze; ohne Nennung eines Namens heißt es nur ,der Presbyter’.8 Dem Verfasser der Apokalypse aber genügte es keineswegs, sich nur einmal in seinem Berichte zu nennen. Er wiederholt:9 ‚Ich, Jo- S. 351 hannes, euer Bruder und Mitgenosse in der Trübsal und im Reiche und in der Geduld Jesu war auf der Insel, welche Patmos heißt, um des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu willen.’ Und am Schlusse sprach er so:10 ‚Selig, wer die Worte der Weissagung dieses Buches bewahrt, und ich, Johannes, der dies sah und hörte.’ Daß es ein Johannes war, der diese Worte schrieb, muß man ihm glauben, nachdem er es sagt. Welcher Johannes es aber war, ist nicht bekannt. Denn er bezeichnete sich nicht, wie es oft im Evangelium heißt, als den Jünger, den der Herr liebte, oder als den, der an seiner Brust geruht, oder als den Bruder des Jakobus, oder als den, der den Herrn mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört. Eine dieser Bezeichnungen hätte er sich wohl beigelegt, wenn er sich deutlich hätte zu erkennen geben wollen. Doch gebraucht er keine davon. Nur unsern Bruder und Genossen nennt er sich und den Zeugen Jesu und einen, der selig ist, da er die Offenbarungen gesehen und gehört. Nach meiner Meinung trugen viele Männer den Namen des Apostels Johannes. Aus Liebe zu ihm, aus Bewunderung und Nacheiferung und im Verlangen, gleich ihm vom Herrn geliebt zu werden, haben sie sich den gleichen Namen beigelegt, wie denn auch der Name Paulus und der Name Petrus häufig bei Kindern der Gläubigen vorkommt. Es wird nun auch ein anderer Johannes mit dem Beinamen Markus in der Apostelgeschichte erwähnt; ihn hatten Barnabas und Paulus mit sich genommen,11 und von ihm heißt es:12 ‚Sie hatten auch an Johannes Unterstützung.’ Nicht möchte ich aber behaupten, daß dieser der Verfasser der Apokalypse sei. Denn es steht nicht geschrieben, daß Johannes Markus mit den Genannten nach Asien gekommen, sondern es heißt:13 ‚Paulus und seine Gefährten fuhren von Paphos ab und kamen nach Perge in Pamphylien; Johannes aber trennte sich S. 352 von ihnen und kehrte nach Jerusalem zurück.’ Ich glaube, daß irgendein anderer von denen, die in Asien weilten, der Verfasser der Apokalypse war, da man auch sagt, in Ephesus seien zwei Gräber gewesen, und jedes davon heiße Johannesgrab.
Auch aus den Gedanken und Worten und deren Anordnung wird man mit Recht entnehmen, daß dieser Schriftsteller gegenüber jenem eine andere Person ist. Das Evangelium und der Brief nämlich stimmen miteinander überein und beginnen auf gleiche Weise. Dort heißt es:14 ‚Am Anfange war das Wort’; hier:15 ‚Was von Anfang an war’. Dort heißt es:16 ‚Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, eine Herrlichkeit wie des Eingeborenen vom Vater’; hier heißt es mit geringer Veränderung:17 ,Was wir gehört, was wir mit unsern Augen gesehen, was wir geschaut und unsere Hände betastet haben vom Worte des Lebens — und das Leben hat sich geoffenbart.’ Diese Worte schickt er voraus, da er, wie er im folgenden zeigt, gegen jene sich wendet, die behaupteten, der Herr wäre nicht im Fleische erschienen. Daher fügte er vorsorglich noch bei:18 ‚Und was wir gesehen haben, bezeugen wir und verkünden euch das ewige Leben, welches beim Vater war und uns geoffenbart wurde; was wir gesehen und gehört haben, verkünden wir auch euch’. Johannes bleibt sich treu und weicht nicht von dem Ziele ab, das er sich gesteckt. Überall dieselben Grundgedanken und Ausdrücke. Einige davon wollen wir in Kürze anführen. Wer aufmerksam liest, wird in beiden Schriften häufig die Worte finden: das Leben, das Licht, Abkehr von der Finsternis; fortwährend die Wahrheit, die Gnade, die Freude, das Fleisch und das Blut des Herrn, das Gericht, die Nachlassung der Sünden, die Liebe Gottes zu uns, das Gebot, daß S. 353 wir einander lieben sollen, daß man alle Gebote beobachten müsse, die Überführung der Welt, des Teufels, des Antichrist, die Verheißung des Heiligen Geistes, die Annahme zu Söhnen Gottes, den von uns allen geforderten Glauben, den Vater und den Sohn. Wer so, mit einem Worte, alles genau durchprüft, wird am Evangelium und am Briefe eine und dieselbe Färbung erkennen. Völlig anderer und fremder Art ist gegenüber diesen Schriften die Apokalypse. Es fehlt jede Verbindung und Verwandtschaft. Ja sie hat sozusagen kaum eine Silbe damit gemein. Auch enthält weder der Brief — vom Evangelium nicht zu reden — irgendeine Erwähnung oder einen Gedanken der Apokalypse noch die Apokalypse vom Briefe, während doch Paulus in seinen Briefen auf die ihm gewordenen Offenbarungen anspielt,19 die er nicht in eigener Schrift aufgezeichnet. Weiterhin läßt sich auch aus dem Stile die Verschiedenheit des Evangeliums und des Briefes gegenüber der Apokalypse feststellen. Jene nämlich sind nicht nur in fehlerlosem Griechisch geschrieben, sondern mit höchster Gewandtheit im Ausdruck, in der Gedankenentwicklung, in der Satzverbindung; man wird kaum einen barbarischen Laut oder Solöcismus oder überhaupt einen Vulgarismus darin finden. Denn ihr Verfasser besaß, wie es scheint, beide Gaben — beide ein Geschenk des Herrn20 —, die Gabe der Erkenntnis und des Stiles. Zwar bestreite ich nicht, daß jener andere Offenbarungen geschaut, Erkenntnis und Prophetengabe empfangen hat.21 Doch ich sehe, daß seine Rede und Sprache nicht rein griechisch sind und daß er barbarische Wendungen und gelegentlich auch Solöcismen gebraucht. Das hier auszuheben, erachte ich nicht für notwendig. Niemand möge indes glauben, daß ich dies spottweise sagte. Ich wollte nur die Ungleichheit dieser Schriften dartun.“ S. 354
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Irrtümlich verbindet Dionysius die Worte κἀγὼ Ἰωάννης mit dem vorhergehenden Satze. ↩
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Offenb. 22, 7 f. ↩
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So Lawlor und Oulton. ↩
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Offenb. 1, 1 f. ↩
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Ebd. 1, 4. ↩
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Joh. 1, 1. ↩
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Matth. 16, 17. ↩
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2 Joh. 1; 3 Joh. 1. ↩
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Offenb. 1, 9. ↩
-
Offenb. 22, 7 f. ↩
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Apg. 12, 25. ↩
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Ebd. 13, 5. ↩
-
Ebd. 13, 13. ↩
-
Joh, 1,1. ↩
-
1 Joh. 1, 1. ↩
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Joh, 1, 14. ↩
-
1 Joh, 1, 1 f. ↩
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1 Joh. 1, 2f. ↩
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Vgl. 2 Kor. 12, 1—9. ↩
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1 Kor. 12, 8. ↩
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Ebd. 14, 6. ↩