4.
Unter „Plage“ versteht hier der Herr nicht die Schlechtigkeit, nein! sondern das Elend, die Mühsal, Kreuz und Leid. So sagte er auch an einer anderen Stelle: „Ist vielleicht eine Plage in der Stadt, die der Herr nicht verursacht hätte?“1 . Er meinte aber damit nicht Raub und Habsucht, noch sonst etwas Derartiges, sondern die Leiden, die von oben kommen. Ebenso heißt es: „Ich bin es, der den Frieden macht und die Übel schafft“2 . Auch hier ist nicht die3 Schlechtigkeit gemeint, sondern Hunger und Pest, die von den meisten Leuten als Übel betrachtet werden. Die meisten pflegen ja derlei Dinge Übel zu nennen. Als S. d300 die Priester und Wahrsager jener fünf Landschaften die vor die Bundeslade gespannten Kühe ohne deren Kälber gehen ließen, wohin sie wollten, nannten ja auch sie jene gottverhängten Plagen, sowie die Trauer und den Schmerz, den sie ihnen verursachten, ein „Übel“45 . Dasselbe tut uns also auch hier Christus kund mit den Worten: „Jedem Tag genügt seine Plage.“ Nichts bereitet ja der Seele so viel Schmerz als Sorge und Kummer. Als der hl. Paulus zur Jungfräulichkeit aufmunterte, kleidete er seinen Rat in die Worte: „Ich will aber, dass ihr ohne Sorgen seid“6 . Wenn aber Christus sagt, der heutige Tag soll sich's mit seiner eigenen Sorge genügen lassen, so sagt er dies nicht, als ob der Tag Sorgen hätte, sondern weil er zu einem weniger gebildeten Volke redete und seinen Worten rechten Nachdruck verleihen wollte. Deshalb personifiziert er die Zeit und schließt sich in seiner Redeweise an die Gewohnheit der Menge an.
Auch gibt er hier nur einen Rat, in folgenden dagegen macht er den Rat zur Vorschrift und sagt: „Ihr sollt weder Gold haben noch Silber, noch eine Tasche für die Reise“7 . Nachdem er ihnen nämlich mit gutem Beispiel vorangegangen war, da wurden auch seine mündlichen Vorschriften strenger. Man nahm eben seine Worte besser auf, da sie durch seine früheren Taten bekräftigt waren. Wo hat er also seine Vorschriften durch die Tat beleuchtet? Höre nur, wie er sagt: „Der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen könnte“8 . Indes begnügt er sich auch damit nicht: Auch an seinen Jüngern zeigt er uns dieselbe Lehre; denn auch sie hat er in diesem Sinne erzogen und duldete darum nicht, dass sie an irgend etwas Mangel litten. Beachte aber auch, wie groß die Fürsorge des Herrn ist: größer als die Liebe irgendeines Vaters sein kann. Solches befehle ich euch, sagt er nämlich, aus S. d301 keinem anderen Grunde, als um euch von unnützen Sorgen zu befreien. Wenn du dir nämlich auch heute Sorgen machst wegen des morgigen Tages, morgen hast du doch auch wieder Sorgen. Wozu also sich überflüssige Gedanken machen? Warum zwingst du den heutigen Tag, mehr Leid und Kummer zu tragen, als ihm9 zugemessen ist, legst ihm außer seinen eigenen Mühen auch noch die Last des folgenden Tages auf? Durch diese Überbürdung des einen Tages wirst du die Last des anderen doch nicht leichter machen, sondern nur ein Übermaß nutzloser Sorgen zur Schau tragen. Um nämlich seinen Zuhörern die Sache noch anschaulicher zu machen, verleiht Christus der Zeit gleichsam Leben und Person und stellt sie dar, als geschähe ihr das Unrecht, und als beschwerte sie sich dagegen ob der überflüssigen Belastung. Du hast eben den einzelnen Tag bekommen, damit du dich um das kümmerst, was ihn trifft. Warum legst du ihm also auch noch die Sorgen des folgenden Tages auf? Hat er denn an seinen eigenen nicht genug zu tragen? Wozu beschwerst du ihn also noch mehr? Wenn aber derjenige so redet, der uns die Gesetze gibt, und der uns einmal richten wird, so erwäge, wie herrlich die Dinge sein müssen, auf die er uns Hoffnung macht, wenn er doch selbst sagt, dieses irdische Leben sei so armselig und mühevoll, dass selbst die Sorge eines einzigen Tages genügt, uns mit Leid und Bitterkeit zu erfüllen. Indes, trotz dieser vielen und gewichtigen Mahnungen machen wir uns wohl um diese zeitlichen Dinge Sorgen, nicht aber um die himmlischen. Wir machen es also gerade umgekehrt, und verfehlen uns in doppelter Weise gegen seine Befehle. Sieh nur, Christus sagt: Gebet euch gar keine Mühe um die zeitlichen Dinge; wir hingegen mühen uns fortwährend um sie ab. Der Herr mahnt: Suchet das Himmelreich; wir aber suchen es kaum eine schwache Stunde lang, sondern verwenden all unsere Sorgen auf die irdischen Dinge. So groß ist unsere Nachlässigkeit in geistlicher Hinsicht, ja noch viel größer!
So kann es aber nicht immer weitergehen; es darf nicht immer so bleiben! Siehe, es vergehen zehn Tage, ohne dass wir uns um den Himmel S. d302 kümmern, ja zwanzig und hundert. Ist es denn aber nicht ganz sicher, dass wir einmal sterben müssen und dann in die Hände des Richters fallen? Doch es beruhigt dich, dass dies noch lange ansteht. Aber welche Beruhigung kann es dir bieten, jeden Tag Strafe und Züchtigung gewärtigen zu müssen? Wenn du willst, dass die noch übrige Spanne Zeit dir Trost und Beruhigung verschaffe, so suche sie in der Besserung, die eine Frucht der Buße ist. Wenn du in dem Aufschub der Strafe einen Trost zu finden glaubst, so ist es doch viel eher ein Gewinn, überhaupt nicht der Strafe zu verfallen. Benutzen wir also die Zeit, die uns noch übrig bleibt, um von all den drohenden Peinen vollständig befreit zu werden. Es handelt sich bei den Geboten des Herrn nicht um etwas Lästiges oder etwas Widerwärtiges; vielmehr ist alles so bequem und leicht, dass wir bei aufrichtig gutem Willen alles leicht erfüllen können, und hätten wir auch unzählige Sünden auf dem Gewissen. So hatte ja auch Manasse10 unerhörte Freveltaten sich zuschulden kommen lassen, hatte seine Hand gegen das Heiligtum ausgestreckt, Greuel und Entehrung in den Tempel getragen, die Stadt mit Mord erfüllt und viele andere Missetaten begangen, die zu groß waren, als dass sie Verzeihung verdient hätten; gleichwohl hat er diese ungeheuren Freveltaten alle von sich abgewaschen. Wie und wodurch? Durch Buße und Sinnesänderung.