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S. 12 Eigentlich sollten wir nicht auf die Hilfe der Hl. Schrift angewiesen sein, vielmehr ein so reines Leben führen daß die Gnade des Hl. Geistes in unseren Seelen die Stelle der Hl. Schrift verträte, und daß, wie diese mit Tinte, so unsere Herzen durch den Hl. Geist beschrieben wären. Nachdem wir aber einmal diese1 Gnade verscherzt haben, so wollen wir wenigstens mit Freuden die zweite Rettungsmöglichkeit ergreifen. Daß allerdings der erste Weg der bessere wäre, das hat uns Gott selbst in Wort und Tat geoffenbart. So hat er mit Noe, mit Abraham und seinen Nachkommen mit Job und Moses nicht durch Schriften, sondern selbst in eigener Person verkehrt, da er ihre Herzen rein befunden. Nachdem aber das gesamte Judenvolk in den tiefsten Abgrund der Sünde gestürzt war, da gab er ihnen Schriften und Gesetzestafeln zur mahnenden Erinnerung. Dasselbe können wir aber nicht bloß bei den Heiligen des Alten Bundes beobachten, sondern auch bei denen des Neuen. Den Aposteln hat Gott nichts Geschriebenes übergeben, sondern an Stelle von Schriften hat er ihnen die Gnade des Hl. Geistes verheißen: „Denn er“, so sagte er, „wird euch an alles erinnern“2 . Damit du aber einsiehst, daß diese Art wirklich viel besser war, so höre, was der Herr durch den Propheten spricht: „Ich werde einen neuen Bund mit euch schließen, euch Satzungen geben zur Erinnerung, und sie in eure Herzen schreiben, und sie werden alle Gottes Schüler sein“3 . Auch Paulus hat auf den gleichen Vorzug S. 13hingewiesen, da er sagte, er habe ein Gesetz erhalten, „nicht auf Tafeln und Stein, sondern auf den Fleischestafeln seines eigenen Herzens“4 . Nachdem aber5 im Laufe der Zeit auf Abwege geraten waren, die einen in Glaubenssachen, andere in ihrem Lebenswandel, da bedurfte es wiederum der Ermahnung durchs geschriebene Wort. Während wir also ein so reines Leben hätten führen sollen, daß wir nichts Geschriebenes benötigten, sondern an Stelle von Büchern unsere Herzen dem Hl. Geiste hätten eröffnen sollen, haben sie diese Ehre verscherzt und sind darum auf den Gebrauch der Schriften angewiesen. Bedenke daher, welch ein Unrecht es ist, wenn wir auch dieses zweite Rettungsmittel nicht gebührend gebrauchen wollen. Denn wenn es schon an sich nicht in der Ordnung ist, daß wir überhaupt der Schriften bedürften, anstatt die Gnade des Hl. Geistes auf uns herabzuziehen, so erwäge, wie groß erst unsere Schuld sein wird, wenn wir auch von diesem Hilfsmittel keinen Gebrauch machen wollen, sondern die Hl. Schrift vernachlässigen, als wäre sie etwas ganz Überflüssiges, und wir dadurch nur noch größere Strafe uns zuziehen! Um und also davor zu bewahren, wollen wir uns eifrig mit den Hl. Schriften beschäftigen und lernen, auf welche Art das Alte Gesetz gegeben wurde, auf welche das Neue. Wie wurde also damals jenes Gesetz gegeben, und wann und wo? Es wurde gegeben nach dem Untergang der Ägypter, und zwar in der Wüste, auf dem Berge Sinai, während Rauch und Feuer von dem Berge ausging, während die Posaunen tönten, Donner rollten, und Blitze zuckten, und Moses selbst mitten in die Finsternis hineintrat.
Ganz anders war es beim Neuen Testamente. Nicht in der Wüste oder auf einem Berge, nicht in Rauch und Finsternis, bei Dunkelheit und Sturmwind, nein, in der Frühe des Tages, in einem Hause, als alle sich versammelt hatten, da ging alles in großer Stille vor sich. Für jene, die noch nicht genügend verständig und lenksam waren, brauchte man S. 14Dinge, die äußeren Eindruck machten, die Wüste, den Berg, den Rauch, den Posaunenschall und Ähnliches mehr. Für die Einsichtigen und Fügsameren hingegen, welche über derlei Äußerlichkeiten bereits erhaben waren, bedurfte es all dessen nicht. Denn wenn auch bei ihnen ein Sturmesbrausen entstand, so geschah dies nicht der Apostel wegen, sondern mit Rücksicht auf die anwesenden Juden, für die auch die Feuerzungen erschienen. Denn wenn sie trotz all dem noch sagten: „Sie sind trunken vom neuen Wein“6 , so hätten sie noch viel eher geredet, wenn sie nichts von all dem gesehen hätten. Und bei Gründung des Alten Bundes stieg Gott in gleicher Weise herab, wie Moses hinaufstieg; hier aber wurde durch die Herabkunft des Hl. Geistes unsere eigene Natur in den Himmel, ja sogar auf den königlichen Thron selbst erhoben. Wäre aber der Hl. Geist geringer, so wären seine Wirkungen nicht größer und wunderbarer. Denn diese7 Tafeln sind viel besser, und die Taten, die hier geschehen, viel glänzender. Die Apostel kamen nicht wie Moses von einem Berg herunter, und trugen keine steinernen Tafeln in ihren Händen; dafür trugen sie den Hl. Geist in ihren Herzen und strömten gleich einem Quell die Schätze der Lehre und der Charismen und jeder Art geistiger Gaben aus. So wurden sie durch die Gnade zu lebendigen Schrift und Gesetzbüchern, und wanderten überall umher. Auf diese Weise zogen sie jene 3000, so jene 5000, ja alle Nationen der Welt an sich, indem Gott durch ihren Mund mit allen verkehrte, die sich ihnen zuwandten8 . Durch ihn wurde auch Matthäus vom Geiste erfüllt und schrieb dann sein Evangelium: Matthäus der Zöllner! Ja, ich scheute mich nicht, ihn nach seinem Gewerbe zu benennen, ihn so gut wie die anderen; denn gerade das beweist am deutlichsten die Gnade des Geistes und die Tugend der Apostel.