5.
Eine zweifache Forderung stellt somit der Herr an uns: Dass wir unsere Sünden verurteilen und dass wir anderen verzeihen, und zwar das erste wegen des zweiten, damit uns leichter werde1 . Wir sollen aber nicht bloß mit dem Munde, sondern von Herzen vergeben; sonst richten wir das Schwert gegen uns selbst, wenn wir unversöhnlich sind. Ist denn das Übel, das dir dein Beleidiger angetan hat, so groß wie das, welches du dir selbst zufügst, wenn du durch Rachsucht dir das Verwerfungsurteil Gottes zuziehst? Wenn du vernünftig und besonnen bist, wird das Verderben auf sein Haupt zurückfallen und er eigentlich der Leidtragende sein. Fährst du hingegen fort, unwillig und aufgebracht zu sein, dann wirst du den Schaden davon haben, und zwar nicht von seiner Seite, sondern von dir selbst. Sage also nicht, er habe dich geschmäht und verleumdet und dir tausenderlei Böses angetan; denn je mehr du vorbringst, desto mehr Wohltaten zählst zu auf, die er dir erwiesen hat. Er gab dir nämlich Gelegenheit, deine Sünden zu sühnen. Je größer deshalb das Unrecht ist, das er dir tut, desto mehr hilft er dir, dass du Verzeihung deiner Sünden erlangst. Wenn wir also nur den guten Willen haben, so ist niemand imstande, uns wirklich Schaden zuzufügen; unser Feind wird uns vielmehr zum größten Nutzen gereichen.
Allein das sind ja nur Menschen. Könnte es aber einen ärgeren Bösewicht geben, als den Teufel? Gleichwohl bietet auch er uns Anlass zu vielen Tugendübungen. Ein Beispiel dafür ist Job. Wird aber sogar der Teufel uns Anlass, dass wir Lohn ernten, wie wolltest du dann S. d890 einen feindseligen Menschen fürchten? Sieh also, wieviel Vorteil du gewinnen kannst, wenn du die Bosheiten deiner Feinde mit Sanftmut hinnimmst. Der erste und größte Vorteil, den du davon hast, besteht darin, dass dir deine Sünden nachgelassen werden; der zweite, dass du starkmütig und geduldig, der dritte, dass du sanftmütig und liebevoll wirst2 ; viertens, dass du immer mehr die Zornmütigkeit ablegst. Damit lässt sich wohl nichts vergleichen; denn wer sich des Zornes entledigt hat, ist auch frei von der Traurigkeit, die daraus entspringt, und vergeudet sein Leben nicht mit unnützen Mühen und Kümmernissen. Wer keinen Hass kennt, kennt auch keine Betrübnis, sondern genießt sein Leben in Ruhe und ist reich an vielen Gütern. Wer dennoch andere hasst, straft sich selbst, wie man umgekehrt durch Liebe sich selbst wohltut. Hierzu kommt noch, dass du allen Menschen selbst deinen Feinden, und wären sie auch ganze Teufel, ein Gegenstand der Ehrfurcht wirst; ja bei einer solchen Gesinnung wirst du überhaupt keinen Feind mehr haben. Was jedoch das Allergrößte und Wichtigste ist, du gewinnst die Liebe Gottes. Wenn du ein Sünder bist, wird dir Vergebung zuteil; bist du ein Gerechter, wo wirst du in ein noch innigeres Verhältnis zu ihm treten.
Wir wollen es uns also angelegen sein lassen, niemand zu hassen, damit auch Gott uns liebe; er wird sich dann unser erbarmen und uns gnädig sein, auch wenn wir ihm zehntausend schuldig wären. Allein dir ist von jemandem Unrecht geschehen? Nun gut, dann habe Mitleid mit ihm, aber hasse ihn nicht; bedauere, beklage ihn, aber werde ihm nicht abgeneigt. Er hat ja Gott beleidigt, nicht du; ja du wirst sogar sein Wohlgefallen finden, wenn du geduldig bleibst. Beherzige, dass Christus vor der Kreuzigung für seine Person voll Freude war, während er über diejenigen weinte, die ihn kreuzigten. So wollen auch wir handeln. Je mehr wir Unrecht zu leiden haben, desto mehr sollen wir unsere Beleidiger beweinen; denn für uns erwächst daraus großer Nutzen, für sie das Gegenteil. Aber er hat dich S. d891 vor allen Leuten geschmäht und geschlagen? Nun gut, dann hat er sich selbst vor allen Leuten Schande und Unehre bereitet, hat Tausenden eine Handhabe zur Anklage gegen sich gegeben, dir hingegen um so mehr Kränze gewunden und viele Leute zu Herolden deiner Langmut geworben. Allein er hat dich bei anderen verleumdet? Ja, was hat das zu bedeuten? Gott, nicht jene, die es gehört haben, wird einst Rechenschaft dafür fordern. Für sich hat er nur neuen Anlass zur Strafe gegeben, da er nicht bloß für seine eigenen Sünden sich verantworten muss, sondern auch wegen der Rede, die er über dich geführt hat. Dich hat er bloß bei den Menschen in schlechten Ruf gebracht, sich selbst aber hat er bei Gott schlecht angeschrieben. Und wenn dir das noch nicht genug ist, so bedenke, dass auch Gott der Herr verleumdet wurde, sowohl vom Satan als von den Menschen, und zwar gerade von jenen, denen er am meisten Liebe erzeigt hatte. Ebenso ging es seinem Eingeborenen, der darum sprechen konnte: „Wenn sie den Hausherrn Beelzebub genannt, um wieviel mehr dessen Hausgenossen“3 . Und es blieb nicht allein bei der Verleumdung des bösen Feindes, man glaubte es auch; und nicht die ersten besten Verleumdungen streute er aus, sondern die schmählichsten und schimpflichsten: er sei besessen, er sei ein Betrüger, er sei ein Widersacher Gottes. Aber du hast ihm Wohltaten erwiesen, und er vergalt dir mit Bösem? Nun, in diesem Falle beweine und beklage einen solchen um so mehr, für dich aber frohlocke; denn du bist Gott ähnlich geworden, der die Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse4 . Es mag vielleicht scheinen, als übersteige es deine Kräfte, Gott nachzuahmen, wiewohl auch das einem Eifrigen nicht schwer fällt; allein wenn es dir doch allzu erhaben vorkommt, will ich dich auf deine Mitknechte hinweisen: auf Joseph, der von seinen Brüdern unsägliches Leiden musste und ihnen dennoch Wohltaten erwies; auf Moses, der trotz tausenderlei Anfeindungen für die Juden Fürsprache einlegte; auf den hl. Paulus, der nicht einmal S. d892 alles aufzählen konnte, was er von den Menschen erduldete und dennoch für sie Anathema5 zu sein wünschte; auf Stephanus, der für seine Steiniger betete, es möge ihnen diese Sünde vergeben werden. Alle diese Lehren musst du beherzigen, um den Zorn völlig abzulegen. Dann wird auch Gott uns alle Sünden verzeihen durch die Gnade und Güte unseres Herrn Jesus Christus, dem im Verein mit dem Vater und dem Heiligen Geiste Ruhm, Macht und Ehre sei jetzt und immer und in alle Ewigkeit. Amen!