2.
Siehst du, wie Christus sogar weissagt, an welchem Orte er hingerichtet werden sollte? „Und sie warfen ihn hinaus aus dem Weinberge und töteten ihn“1 . Lukas erzählt, dass Christus selbst es ausgesprochen, welche Strafe die Winzer traf, und dass die Juden daraufhin gesagt: „Das sei ferne“, und dass der Herr auch das Schriftzeugnis angeführt: „Er aber blickte sie an und sprach: Was ist sodann dieses, was geschrieben steht: Der Stein, welchen die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein geworden; jeder, der auf diesen Stein fällt, wird zerschmettert werden, auf wen er aber gefallen sein wird, den wird er zermalmen“2 . Matthäus S. d982 berichtet, dass die Juden selbst das Urteil fällten. Darin liegt jedoch kein Widerspruch. Beides trifft nämlich zu: Sie sprachen sich selbst ihr Urteil, und als sie ihrer Worte inne wurden, fügten sie hinzu: „Das sei ferne.“ Der Herr hält ihnen daher die Propheten entgegen, um sie zu überzeugen, dass alles sicher in Erfüllung gehen werde. Die Berufung der Heiden spricht er dagegen nicht so offen aus, um den Juden keinerlei Handhabe zu bieten; er spielt bloß darauf an in den Worten: „Er wird seinen Weinberg an andere vermieten.“ Das also war seine Absicht, als er durch ein Gleichnis zu ihnen sprach, sie wollten selbst ihr Urteil aussprechen. Ähnlich hat es auch David einst gemacht, als er auf Grund des Gleichnisses Nathans das Urteil fällte. Beherzige daher, wie gerecht ihre Verdammnis war, da sie, die die Strafe verdient hatten, sich selber das Urteil sprachen. Ferner sollten sie einsehen, dass nicht bloß die Gerechtigkeit ein solches Urteil erheische, sondern auch, dass es der Heilige Geist schon längst geweissagt, somit Gott das Urteil schon gefällt hatte. Deshalb führte er die Prophetenstellen an und sprach mit eindringlichem Vorwurfe: „Habt ihr niemals gelesen: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein geworden? Vom Herrn ist dieses geschehen, und es ist wunderbar in unseren Augen“3 . Durch alles das zeigt er ihnen, dass sie selbst infolge ihres Unglaubens verworfen und dafür die Heiden berufen werden sollten.
Dasselbe hatte er in dem Vorfalle mit dem kanaanäischen Weibe, mit dem Esel4 und sonst noch angedeutet, und jetzt tut er es wieder. Darum setzte er auch hinzu: „Vom Herrn ist dieses geschehen und es ist wunderbar in unseren Augen“, um darauf hinzuweisen, dass trotz des vorherigen großen Unterschiedes die gläubig gewordenen Heiden und alle Juden, die ebenfalls gläubig werden würden, eine einzige Gemeinde ausmachen würden. Außerdem sollten sie zur Erkenntnis kommen, dass das großartige und ungemein auffallende Ereignis, denn es war ja auch ein mächtiges S. d983 Wunder, Gott nicht missfällig, sondern vielmehr sehr angenehm sei. Daher sagte er: „Vom Herrn ist dieses geschehen.“ Sich selbst bezeichnet er als „Stein“, die Lehrer der Juden als „Bauleute“. So hatte sich schon Ezechiel ausgedrückt: „Sie bauen eine Mauer, ohne sie mit Lehm zu verbinden“5 . Und inwiefern haben sie ihn verworfen? Da sie sprachen:„Dieser ist nicht aus Gott“6 . „Er verführt das Volk“7 . „Du bist ein Samaritan und hast einen Teufel“8 . Die folgenden Worte:
V.44:„Jeder, der auf diesen Stein fällt, wird zerschmettert werden, und auf wen er fällt, den wird er zermalmen“,
sollten sie lehren, dass in der Verwerfung nicht ihre einzige Strafe bestehe. Zweifach ist das Unheil, das er erwähnt: erstens, dass sie an ihm Anstoß nehmen und sich über ihn ärgern würden, das besagen die Worte: „Wer auf diesen Stein fällt“; zweitens ihre Unterjochung, ihr Elend und ihr völliger Untergang; denn das alles drückt der Satz aus: „Den wird er zermalmen.“ Überdies liegt in seinen Worten auch ein Hinweis auf seine Auferstehung.
Bei Isaias klagt der Herr über den Weinberg; an unserer Stelle beschuldigt Christus die Ältesten des Volkes. Dort steht: „Was ist's, das ich meinem Weinberge noch hätte tun sollen und habe es nicht getan?“9 , und anderswo: „Was haben eure Väter an mir Unrecht gefunden?“10 , und: „Mein Volk, was hab ich dir getan, oder womit habe ich dich betrübt?“11 . Damit wies er auf ihre Undankbarkeit hin und wie sie alle seine Wohltaten nur mit Undank lohnten. In unserem Gleichnisse drückt er sich noch schärfer aus. Er sagt nicht in eigener Person: Was sollte ich noch tun, das ich nicht getan hätte, sondern führt sie dazu, dass sie selbst das Urteil S. d984 aussprechen, er habe nichts unterlassen, und dass sie so sich selbst verdammen. Denn durch ihre Antwort: „Er wird die Elenden elend verderben und seinen Weinberg anderen Winzern vermieten“ sprechen sie sich selbst mit großem Nachdruck ihr eigenes Urteil. Auch Stephanus machte ihnen dieses zum Vorwurf und das erbitterte sie ja auch so tief, dass ihnen von jeher so viel Sorge zuteil geworden und dass sie dem Wohltäter mit Undank vergolten hatten. Zugleich liegt hierin ein deutlicher Beweis, dass nicht der Strafende, sondern die Bestraften selbst schuld waren an der über sie verhängten Züchtigung. Dasselbe ergibt sich aus unserem Gleichnisse, sowie aus den Weissagungen. Ließ er es doch nicht bei dem Gleichnisse allein bewenden, sondern berief sich auch auf zwei Prophezeiungen; die eine stammte von David, die andere von ihm selbst. Was hätten nun die Zuhörer tun sollen? Hätten sie nicht ihn anbeten, nicht seine Fürsorge von früher und von jetzt bewundern sollen? Und wenn alles das sie nicht zu bessern vermochte, hätten sie nicht wenigstens aus Furcht vor der Strafe in sich gehen sollen? Aber das war nicht der Fall, sondern
V.45: „Sowie die Hohenpriester und die Pharisäer seine Gleichnisse gehört hatten, erkannten sie, dass er von ihnen rede.
V.46: Und obgleich sie suchten, ihn festzunehmen, fürchteten sie die Volksscharen, da diese ihn als Propheten betrachteten.“
Endlich merkten sie, dass der göttliche Heiland auf sie anspielte. Einmal, da sie ihn ergreifen wollten, ging er ungesehen mitten durch sie hindurch; ein andermal trat er offen vor sie hin und hielt ihre Leidenschaftlichkeit in Schranken. Das erregte auch Erstaunen, denn man sprach: „Ist das nicht Jesus? Siehe, er redet freimütig und sie sagen ihm nichts“12 . In unserem Falle ist es ihm genug, dass sie durch die Furcht vor der Menge zurückgehalten werden; er wirkt kein Wunder wie früher, wo er unsichtbar durch sie hindurchging. Er wollte eben nicht immer übermenschlich handeln, damit S. d985 man an seine Menschwerdung glaube. Die Juden aber wurden weder durch das Volk, noch durch seine Worte zur Einsicht gebracht; weder das Zeugnis der Propheten, noch ihr eigenes Urteil, noch die Meinung der Leute machte Eindruck auf sie. So sehr waren sie durch ihre Herrschgier, ihren Ehrgeiz und ihre Anhänglichkeit an das Zeitliche verblendet.