2.
Man darf aber über all das nicht einfach hinwegeilen, sondern muss es tief in sein Herz einprägen, dann wird der Zorn nicht leicht Raum finden. Wenn man an jenes Abendmahl denkt, wie der Verräter mit dem Welterlöser zu Tische saß, wie gelassen er mit dem redet, der schon daran war, ihn zu verraten, muss man da nicht das ganze Gift des Zornes und der Rachsucht aus dem eigenen Innern hinauswerfen? Siehe, wie sanft der Herr äußert: „Der Menschensohn geht dahin, wie von ihm geschrieben steht.“ Diese Worte bezweckten einerseits, die Jünger aufzurichten, damit sie nicht meinten, er handle aus Schwäche so, anderseits den Verräter zu bessern. „Wehe jenem, Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird; es wäre besser für jenen Menschen, wenn er nicht geboren wäre.“ Beachte wieder, welch unaussprechliche Sanftmut in seinen Tadelworten liegt. Er spricht die Worte nicht mit Heftigkeit, S. d1155 sondern voll Erbarmen und zugleich verblümt, nicht bloß die vorausgehende Härte, sondern auch die nachherige Unverschämtheit des Judas die größte Entrüstung hervorrufen musste. Nach dem Tadel sagt nämlich auch Judas:
V.25: „Bin etwa ich es, Rabbi?“
O welch eine Verstocktheit! Obschon er sich des Verrates bewusst ist, fragt er noch! Sogar der Evangelist kann bei dem Berichte sein Staunen über diese Frechheit nicht verbergen. Wie verhält sich nun Jesus in seiner Sanftmut und Milde? „Du hast es gesagt“, erwidert er. Hätte er nicht antworten sollen: Nichtswürdiger, Ausbund von Nichtswürdigkeit, Verfluchter und Niederträchtiger, schon lange brühtest du über deiner Schandtat, bist schon hingegangen, um den teuflichen Vertrag zu schließen, hast schon die Summe vereinbart, und da ich dich beschuldige, wagst du noch eine solche Frage? Allein kein solches Wort kommt über seine Lippen, er sagt bloß: „Du hast es gesagt.“ Damit gibt er uns die Weisung, Böses gelassen zu ertragen.
Aber könnte mich jemand fragen: Wenn es nun geschrieben steht, dass er das leiden soll, weshalb macht er dem Judas Vorwürfe? Der tat doch nur, was geschrieben stand. Freilich, aber ihn leitete nicht diese Absicht, sondern seine Bosheit. Wenn man die Absicht aus dem Auge lässt, wird man sogar den Teufel von der Schuld freisprechen müssen. Indessen steht die Sache nicht so, durchaus nicht. Der eine wie der andere hat jede erdenkliche Strafe verdient, obwohl die Welt erlöst wurde. Denn nicht der Verrat des Judas hat die Erlösung bewirkt, sondern Christi Weisheit und die Kunst seiner Vorsehung, indem er sich der Bosheit der Menschen bediente, um uns zu retten. Wie aber, sagst du, hätte ihn nicht Judas verraten, würde es dann nicht ein anderer getan haben? Was hat das aber mit unserer Frage zu schaffen? Ja, entgegnest du, wenn Christus gekreuzigt werden sollte, so musste es doch durch jemanden geschehen; und wenn schon durch jemand, dann nur durch einen so ruchlosen Menschen. Wären alle S. d1156 gut gewesen, dann wären die Veranstaltungen zu unserer Erlösung vereitelt worden, keineswegs. Der Allweise hätte schon unser Heil zu bewerkstelligen gewusst, auch wenn dem so gewesen wäre; seine Weisheit ist reich und unerschöpflich an Mitteln. Eben deshalb spricht er „Wehe“ über den Menschen, damit ja niemand meine, er habe dem Erlösungswerk einen Dienst geleistet. Indessen, wieder wendet jemand ein: Wenn es gut gewesen wäre, dass er nicht geboren würde, weshalb ließ es dann Gott zu, dass er und die anderen Bösen auf die Welt kamen? Du solltest die Bösen tadeln, dass sie böse geworden sind, trotzdem es in ihrer Macht lag, es nicht zu werden; indessen kümmerst und sorgst du dich um das, was Gott gefällt. Du musst doch wissen, dass niemand genötigt wird, schlecht zu werden.
Aber es hätten nur Gute geboren werden sollen, erwiderst du, und die Hölle wäre nicht notwendig noch auch Strafe und Qualen, und es gäbe keine Spur von Schlechtigkeit; Böse sollten gar keine geboren werden, oder sie sollten wenigstens augenblicklich wieder sterben. Zunächst muss ich dir das Wort des Apostels entgegenhalten: „O Mensch, wer bist du, dass du haderst mit Gott? Wird wohl das Gebilde sagen zu seinem Bildner: Warum hast du mich so gemacht?“1 . Verlangst du aber eine Erklärung, so möchte ich sagen, dass man die Guten mehr bewundert, wenn sie mitten unter Bösen leben, und dass ihre Geduld und Tugendgröße gerade dadurch besonders ans Licht tritt. Du aber sprichst, als ob es keines Ringens und Kämpfens bedürfte. Wie, sagst du, damit die einen gut erscheinen, werden die anderen gestraft? Gott bewahre! Das geschieht nur infolge ihrer Schlechtigkeit. Nicht weil sie auf dem Schauplatze des Lebens auftreten, sind sie böse, sondern weil sie nachlässig sind; deshalb verfallen sie aber auch der Strafe. Wie sollten sie auch keine Strafe verdienen, wenn sie so treffliche Lehrer in der Tugend besitzen, ohne daraus Vorteil zu ziehen? Wie die Guten und Braven doppelten Lohnes wert sind, weil sie ordentlich gewesen sind, ohne sich von den Bösen verderben zu S. d1157 lassen, so verdienen die Schlechten doppelte Strafe, weil sie böse gewesen sind, da sie doch gut zu sein vermochten2 , und weil sie sich nicht nach den Guten richteten. Allein, lasset uns sehen, was dieser Elende auf die Beschuldigung des Meisters entgegnet. Was sagt er? „Ich bin es doch nicht etwa, Meister?“ Warum hatte er nicht gleich anfangs so gefragt? Er hatte sich eingeredet, verborgen bleiben zu können, als der Herr sagte: „Einer aus euch“; als er ihn jedoch bekannt gemacht hatte, wagte er im Vertrauen auf die Nachsicht des Meisters wieder zu fragen, als ginge ihn die Beschuldigung gar nichts an. Daher redete er ihn auch mit „Meister“ an.