5.
S. 610 Keine Sünde also gibt es, die nicht durch die Kraft der christlichen Liebe vom Feuer verzehrt würde. Leichter widersteht dürres Reisig der Gluth eines brennenden Scheiterhaufens, als die Sünde der Gewalt der Liebe. Darum pflanzen wir sie ein in unser Herz, damit wir einst unsern Platz unter den Heiligen haben! Denn diese alle waren ein Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens einzig durch die Liebe. Warum ward denn Abel getödtet, warum hat er nicht vielmehr selbst getödtet? Nur darum, weil er seinen Bruder sehr liebte, so daß nicht einmal ein schlimmer Gedanke in seiner Seele aufstieg. Warum ist Kain (ich mag ihn nicht mehr Abels Bruder nennen) in das verderbliche Laster des Neides gefallen? Weil die Liebe in ihm nicht fest gegründet war. Was hat den Söhnen Noe’s einen so guten Ruf verschafft? Der Umstand, daß sie ihren Vater so liebten und darum nicht seine Blöße schauten. Warum hat der Andere den Fluch auf sich geladen? Darum, weil er die Liebe nicht besaß. Woher hat Abraham seinen Ruhm? Weil er aus Liebe für seinen Vetter gestritten und für die Sodomiten Fürsprache eingelegt. Ja, fürwahr, eine inbrünstige, herzinnige, erbarmungsreiche Liehe hat die Heiligen beseelt. Ja, stelle dir vor, wenn du kannst, den heiligen Paulus mit seiner sogar durch das Feuer gehenden Liebe, ihn, den demantharten, den felsenfesten, den unentwegbaren, den stahlgehärteten, von der Furcht Gottes durchdrungenen, unbeugsam in allweg; ihn, der da ausrufen konnte: „Wer wird mich von der Liebe Christi scheiden? Trübsal? Angst? Verfolgung? Hunger? Blöße? Gefahr oder Schwert?“1 Und dieser Mann nun, der den Kampf mit all den genannten Dingen aufgenommen, und dazu noch mit Erd’ und Meer, für den die ehernen Pforten des Todes nichts Schreckhaftes hatten, der überhaupt nichts Irdisches fürchtete, dieser Mann von S. 611 Stahl und Eisen wird, als er einige seiner Lieben weinen sieht, so weich und ergriffen, daß er sein Mitgefühl nicht verbergen kann, sondern in die Worte ausbricht: „Was beginnt ihr, daß ihr weinet und mir das Herz brechet?“2 Also ist es wahr, diese demantfeste Seele eines heiligen Paulus vermochte eine Thräne zu erweichen? Ja, erwidert der Apostel, Allem widerstehe ich, nur der Liebe nicht. Diese ist stärker als ich, diese kann mich beherrschen. Das ist die rechte, Gott wohlgefällige Gesinnung. Des Meeres unermeßliche Fluthen machen ihn nicht erzittern — die Schmerzenszähre im Auge des Christen entwaffnet und rührt ihn! „Was beginnet ihr, daß ihr weinet und mein Herz brechet?“ Ja, fürwahr, groß ist die Gewalt der Liebe!
Wollt ihr den Apostel noch einmal weinen sehen? In der Apostelgeschichte heißt es: „Drei Jahre lang haben wir Tag und Nacht nicht aufgehört, unter Thränen einen Jeden von euch zu ermahnen.“3 Aus großer Liebe fürchtet er, ihr Heil möchte irgendwie gefährdet werden. Darum ruft er aus: „Mit großer Betrübniß und Beklemmung des Herzens habe ich euch geschrieben unter vielen Thränen.“4
Denken wir an den ägyptischen Joseph, jenen starken Mann, welcher seiner mächtigen Gebieterin gegenüber standhaft blieb, der einem solchen Brande sündhafter Liebe gegenüber sich so tapfer und edel zeigte, der eine so rasende Leidenschaft seiner Herrin bekämpft und überwunden hat. Welche Reize sollten ihn da umstricken! Die Schönheit der Gestalt, die Hoheit des Ranges, die Pracht der Gewänder, der Duft der Wohlgerüche (denn auch diese können verführerisch auf das Herz wirken) und überdies noch die lockendsten Worte.