III.
Wie nun? Erregt Das nicht eher ein Ärgerniß, wenn Jemand angesichts aller Leute zurechtgewiesen wird? Wie so? Wenn sie wissen, daß er gefehlt hat, aber noch nicht gestraft worden ist, dann ist das Ärgerniß noch größer. Gleichwie in dem Falle, daß die Fehlenden ungestraft bleiben, Viele zu Schaden kommen, so werden im umgekehrten Falle Viele gebessert. Gott hat ja ebenfalls so gehandelt. Den Pharao hat er vor Aller Augen gestraft, und den Nabuchodonosor, und viele Andere sehen wir städteweise und einzeln der Strafe verfallen.
Also will der Apostel, daß Alle Furcht haben vor dem Bischof, und er setzt ihn zum Vorgesetzten über Alle. Da nun oft auf Grund eines bloßen Verdachtes ein Urtheil gefällt wird, so müssen, meint er, Zeugen vorhanden sein und Leute, die ihn überführen, entsprechend dem Gesetze des alten Bundes: „Auf zwei oder drei Zeugen soll jede Sache gestellt werden.“1
„Gegen einen älteren nimm keine Klage an!“ Es heißt nicht: „Verurtheile ihn nicht!“ sondern: „Nimm nicht einmal eine Klage an, citire ihn gar nicht vor deinen S. 204 Richterstuhl!“ Wie ist es nun, wenn auch die zwei Zeugen die Unwahrheit sagen? Das kommt selten vor. Und dann ist es möglich, daß die richterliche Untersuchung auch Das an den Tag bringt. Bei einem Fehltritte genügen zwei Zeugen, da derselbe ohnehin die Verborgenheit und das Dunkel aufsucht. Zwei Zeugen deuten schon auf eine sorgfältige Prüfung. Wie ist es nun, wenn bei Jemand dem die Fehltritte allgemein bekannt sind, er aber doch keine Zeugen gegen sich hat, sondern nur den schlimmen Verdacht? Darauf habe ich schon oben geantwortet: „Er muß ein gutes Zeugniß von Denen haben, welche draussen sind.“2
Laßt uns also Gott lieben mit Furcht und Zittern! Zwar „ist das Gesetz nicht für den Gerechten vorhanden“; allein die Mehrzahl der Menschen, die den Weg der Tugend gezwungen geht und nicht aus freier Wahl, haben von der Furcht einen großen Nutzen; indem sie auf Grund derselben ihre bösen Begierden beschneiden. Darum wollen wir uns gegen die Erinnerung an die Hölle nicht sträuben, damit wir reichlichen Gewinn ziehen aus ihrer Androhung und ihren Schrecknissen. Denn wenn Gott die Sünder in die Hölle stürzen will, und wenn er nicht dabei die Androhung derselben vorausschicken würde, dann würden Viele derselben verfallen. Wenn es schon jetzt, wo die Furcht unsere Seelen durchzittert, leichtfertige Sünder gibt, als gäbe es gar keine Hölle, welche verruchte Menschen wären wir erst, wenn Nichts davon uns verkündet und vorausgesagt wäre! Und wie ich immer sage: die Hölle beweist nicht weniger als der Himmel die göttliche Fürsorge. Die Hölle wirkt ja für den Himmel, indem sie durch Furcht den Menschen in den letzteren hineindrängt. Halten wir die Sache nicht für Härte und Grausamkeit von Seite Gottes, sondern für einen Beweis seines Erbarmens, seiner S. 205 großen Barmherzigkeit und Fürsorge, seiner zärtlichen Liebe zu uns. Wenn Gott in den Tagen des Jonas nicht vorher mit dem Untergang Ninive’s gedroht hätte, wäre derselbe nicht ausgeblieben; wenn er nicht verkündet hätte: „Ninive wird untergehen,“ so wäre die Stadt nicht stehen geblieben. Wenn die Hölle nicht angedroht worden wäre, so würden wir sämmtlich in dieselbe gestürzt werden; wenn mit dem Feuer nicht gedroht worden wäre, so würde ihm Keiner entrinnen. Er erklärt das Gegentheil von Dem thun zu wollen, was er will, damit geschieht, was er will. Er will nicht den Tod des Sünders und spricht von diesem Tode, damit der Mensch demselben nicht verfalle. Aber er droht nicht bloß mit Worten, sondern verwirklicht auch seine Drohung, damit wir dem Unheil entgehen. Auf daß Niemand glaube, es handle sich da um eine leere Drohung, und damit man sehe, daß es wirklich eine Hölle gibt, so hat Gott durch irdische Ereignisse Beweise dafür geliefert. Oder meinst du nicht, daß die Sündfluth ein Symbol der Hölle ist und der niederstürzende, Alles verderbende Regen eine Vorbedeutung des höllischen Feuers? „Gleichwie man in den Tagen des Noe freite und sich freien ließ, so auch jetzt,“ steht geschrieben.3 Die Sündfluth sagte er damals lange Zeit vorher, und auch jetzt prophezeit er die Hölle seit vierhundert und mehr Jahren, aber Niemand merkt auf ihn. Alles hält die Sache für eine Fabel, Alles lacht, Niemand zittert, Niemand vergießt Thränen, Niemand schlägt an die Brust. Der Feuerstrom prasselt herauf, die Flamme züngelt empor, und wir lachen, wir schwelgen, wir sündigen unbekümmert weiter. Niemand nimmt sich jenen Tag zu Herzen, Niemand bedenkt, daß die gegenwärtige Welt vergeht, daß all Das nur eine Zeitlang dauert, obschon die Thatsachen es jeden Tag laut verkünden und ihre Stimme erschallen lassen. Die vorzeitigen Todesfälle, die verschiedenen Wechselfälle auch bei Lebzeiten sind uns keine S. 206 Warnung; auch nicht Körperschwäche und die sonstigen Krankheiten. Und nicht bloß an unserem Leibe, sondern auch an den Elementen läßt sich die Vergänglichkeit wahrnehmen. Wie wir an den einzelnen Lebensaltern tagtäglich den Tod studiren können, so zeigt sich auch in den Erscheinungen der Natur allenthalben das Unbeständige als das Charakteristische. Niemals ist der Winter beständig, niemals der Sommer, niemals der Frühling, niemals der Herbst, sondern Alles ist im Enteilen, im Fortstiegen, im Vorüberströmen begriffen. Und was soll ich von den Blumen reden? von den Ehren und Würden? von den Königen, die heute sind und morgen nicht mehr sind? von den Reichen? von den glänzenden Palästen? von Nacht und Tag? von der Sonne? dem Monde? Hat nicht auch er seine schwindenden Zeiten? Und die Sonne selber, erleidet sie nicht Verfinsterungen und Trübungen? Wird sie nicht oft von einer Wolke eingehüllt? Gibt es etwas Beständiges in der sichtbaren Welt? Nein! Nur die Seele in uns ist unvergänglich, und um diese kümmern wir uns nicht. Für die unbeständigen Dinge tragen wir Sorge, als wären sie bleibend; an die unsterbliche Seele aber denken wir gar nicht, als wäre sie ein vergängliches Ding. Dort steht ein Gewalthaber! Ja, bis morgen, und dann ist’s vorbei mit ihm! Es hat schon Gewaltigere gegeben, und jetzt ist ihre Spur verschwunden. Das Leben ist ein Schauspiel, ein Traum. Gleichwie auf der Bühne mit der Entfernung der Scenerie die bunten Illusionen zerstieben, wie beim ersten Sonnenstrahl die Traumbilder entflattern, so ist es auch, wenn die letzte Stunde kommt für die Gesammtheit sowohl wie für den Einzelnen: Alles zerfließt und verschwindet. Der Baum, den du gepflanzt, bleibt stehen, und das Haus, das du gebaut, bleibt ebenfalls stehen; der Baumeister aber und der Pflanzer, sie werden hinweggerafft und vernichtet. Und trotz alledem lassen wir uns nicht bekehren, sondern gleich Unsterblichen richten wir unser ganzes Dasein ein und ergehen uns dem Schwelgen und Prassen.