6. Die geizige Jungfrau.
Den Tugendhaften zu Lobe, den Lesern zu Nutzen will ich jene nicht unerwähnt lassen, deren Wandel man nur verabscheuen kann.
Es war in Alexandrien eine Jungfrau, die nach außen demütig schien, innerlich aber stolz war. Sie besaß große Reichtümer, gab jedoch keinen Heller für S. 331 Fremde, für Jungfrauen, die Kirche oder die Armen. Sie verzichtete nicht auf ihr Vermögen, obgleich die Väter sie oft ermahnten. Sie nahm die Tochter ihrer eigenen Schwester an Kindesstatt an und versprach ihr Tag und Nacht ihren Besitz. Die Sehnsucht nach dem Himmel war von ihr gewichen. Gerne nimmt ja der Teufel betrügerischer Weise auch die Verwandtenliebe zum Vorwand, wenn er jemand zum Geize verleiten will. Wie aufrichtig er es damit meint, ersieht man am besten daraus, daß er zum Brudermord, Muttermord und Vatermord verleitet. Auch dann, wenn er wirklich die Liebe zu den Blutsverwandten zu steigern scheint, tut er das nicht aus Wohlwollen für diese, sondern weil er eine Seele zur Ungerechtigkeit verführen will; er kennt ja das Wort: "Ungerechte werden das Reich Gottes nicht besitzen".1 Wer sich von Gottesliebe leiten läßt, kann unmöglich das eigene Seelenheil vernachlässigen und statt dessen für die Verwandten sorgen, und wenn sie Mangel litten. Wer sich aber mehr um die Angehörigen kümmert als um die eigene Seele, verfällt dem Gesetze, weil er seine Seele wertlos achtet. Singt doch der heilige Psalmensänger von jenen, die mit Furcht Sorge tragen für ihre Seele: "Wer wird emporsteigen zum Berge des Herrn?" - eben weil man solche Menschen selten findet - "und wer wird stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unbefleckte Hände hat und ein reines Herz; wer seine Seele nicht auf Eitles richtet".2 Denn alle richten auf Eitles ihre Seele, die glauben, sie gehe zugleich mit dem Leibe zugrunde, und darum nicht auf ein tugendsames Leben bedacht sind.
Der hochselige Makarius,3 Priester und Vorsteher des Hospizes für arme Krüppelhafte, faßte den Entschluß, jene Jungfrau von ihrer Habsucht zu heilen.4 Er hatte von Jugend auf mit Edelsteinen gehandelt; S. 332 darum kam er auf folgenden Einfall: Er ging zu ihr und sagte: "Ich habe bei jemand Edelsteine gesehen; Smaragde sind es und Hyazinthe, noch ungeschliffen. Ich weiß nicht, ob sie gefunden oder gestohlen sind; ihren Wert zu bestimmen ist unmöglich, so kostbar sind sie. Doch wäre der Eigentümer bereit, sie um fünfhundert Goldstücke wegzugeben. Solltest du Lust haben sie zu kaufen, so kannst du fünfhundert Goldstücke schon an jedem einzigen Steine verdienen; die anderen magst du verwenden als Schmuck für deine Nichte".5 Dieser Vorschlag war der Jungfrau hochwillkommen, hing doch ihr ganzes Herz am Gelde; sie fiel dem Manne zu Füßen und bat: "Ich beschwöre dich, laß doch diese Steine nicht in andere Hände gelangen!" Er sagte: "Begleite mich in das Haus, damit du sie selber sehest!" Das wollte sie nicht, sondern zählte fünfhundert Goldstücke hin und sprach: "Nimm sie gefälligst! Ich habe keine Sehnsucht, den Verkäufer kennen zu lernen." Makarius nahm die fünfhundert Goldstücke und verwendete sie zu Gunsten des Armenspitales. Obgleich nun viele Zeit verfloß,6 wagte die Jungfrau nicht, ihn zu mahnen, denn er war in Alexandrien hochangesehen ob seiner Gottes und Nächstenliebe. (Makarius lebte noch gleichzeitig mit uns und starb im Alter von ungefähr hundert Jahren.) Endlich traf sie mit ihm in der Kirche zusammen und sprach: "Ich bitte dich, was gedenkst du mit den Steinen zu tun, um derentwillen ich dir die fünfhundert Goldstücke gab?" Er sagte: "Die Steine hab' ich inzwischen gekauft; sie liegen im Spitale. Komm und sieh, ob sie nach deinem Geschmacke sind! Wenn nicht, so magst du dein Gold wieder nehmen." Da ging sie voll Freude mit. Es waren jedoch im oberen Stockwerke des Spitales Weiber, im Erdgeschosse Männer. Am Tore fragte Makarius: "Was willst du an S. 333 erster Stelle sehen? Die Hyanzinthe oder die Smaragde?" Sie sagte: "Ganz nach deinem Belieben." Er führte sie nun in den oberen Stock hinauf und wies ihr Frauen, die verstümmelte Hände oder Füße hatten oder deren Gesicht von Krankheit zerfressen war. "Siehe," sprach er, "das sind die Hyazinthe!" Dann stieg er mit ihr hinab, wies ihr die Männer und sprach: "Das sind die Smaragde, wenn sie dir nicht gefallen, so nimm dein Geld zurück!" Da ging sie beschämt hinweg und erkrankte vor lauter Reue, daß sie nicht Gott zuliebe gehandelt hatte. Dem Priester jedoch blieb sie stets dankbar, zumal das Mädchen, für das sie mit solchem Eifer gesorgt hatte, bald nach der Hochzeit kinderlos starb.
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1Kor 6,9. ↩
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Ps 23,3 f. ↩
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Es gab mehrere Träger des Namens M. Bei Palladius allein begegnen uns mindestens fünf. ↩
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Das Original sagt: "… ihrem Geiz durch Aderlaß Erleichterung zu verschaffen" ((xxx)). ↩
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Wenn auch das ganze Verhalten des Makarius unserem abendländisch nüchternen Sinne wenig behagt, so können wir trotz allem es nicht als Lüge bezeichnen, zumal bei der Vorliebe der Orientalen für Gleichnisse und Bildersprache in jeder Form. ↩
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Im griech. Text ein köstlicher Ausdruck: (xxx) = während die Zeit vorüberritt, ähnlich wie Geibel vom Tode sagt: "Der schnellste Reiter ist der Tod." ↩