XVI. KAPITEL. Gegen die, die sagen: Hat der Mensch zwei Naturen und Wirksamkeiten (Tätigkeiten), so muß man bei Christus drei Naturen und ebensoviele Wirksamkeiten annehmen.
Da der einzelne Mensch aus zwei Naturen, Seele und Leib, besteht und diese unverändert in sich trägt, so wird man mit Recht sagen, er habe zwei Naturen. Er bewahrt nämlich auch nach der Einigung die natürlichen Eigentümlichkeiten einer jeden. Denn der Körper ist nicht unsterblich, sondern vergänglich, die Seele nicht sterblich, sondern unsterblich. Der Körper ist nicht unsichtbar, die Seele für leibliche Augen nicht sichtbar. Sie ist vernünftig, denkend und unkörperlich, er grob, sichtbar und unvernünftig. Nicht einer Natur aber ist, was der Wesenheit nach einen Gegensatz bildet. Also sind Seele und Leib nicht einer Natur 1.
Und wiederum: Der Mensch ist ein vernünftiges, sterbliches Wesen, jedes Wesensmerkmal zeigt die in Rede stehenden Naturen an. Das Vernünftige aber ist gemäß dem Begriffe der Natur nicht dasselbe wie das Sterbliche. Also hat der Mensch nach seiner Normaldefinition wohl nicht eine Natur 2.
Sagt man jedoch bisweilen, der Mensch habe eine Natur, dann nimmt man den Namen Natur für Art. So wenn wir sagen, ein Mensch unterscheide sich vom andern durch keinen Unterschied der Natur. Da alle Menschen dieselbe Zusammensetzung haben, aus Seele und S. 165 Leib bestehen, ein jeder zwei Naturen umfaßt, so werden eben alle unter eine Definition gebracht. Und das ist nicht unvernünftig. Denn der heilige Athanasius sagte sogar, daß alle Geschöpfe, sofern sie geworden, eine Natur haben. Bei der Widerlegung der Lästerer des Hl. Geistes sagt er nämlich also: „Daß der Hl. Geist über der Schöpfung steht, von der Natur der Geschöpfe verschieden ist und allein der Gottheit angehört, ist wiederum leicht einzusehen 3.“ „Denn alles, was man gemeinsam und in vielen schaut, nicht im einen mehr, im andern weniger existiert, heißt Wesenheit 4.“ Nun ist jeder Mensch aus Seele und Leib zusammengesetzt, insofern redet man von einer Natur der Menschen. Bei der Hypostase des Herrn aber können wir nicht von einer Natur reden. Denn eine jede (der beiden Naturen) bewahrt auch nach der Einigung ihre natürliche Eigentümlichkeit, und eine Art von Christussen ist nicht zu finden. Es existiert ja kein anderer aus Gottheit und Menschheit bestehender Christus, der Gott und Mensch zugleich wäre.
Und wiederum: Die Arteinheit des Menschen und die Wesenseinheit von Seele und Leib sind nicht dasselbe. Die Arteinheit des Menschen zeigt nämlich die in allen Menschen vorhandene Gleichheit an, die Wesenseinheit von Seele und Leib aber zerstört deren Sein und bringt sie zum völligen Nichtsein. Denn entweder wird das eine in die Wesenheit des andern verwandelt werden, oder aus beiden ein anderes entstehen, und beide verwandelt werden, oder sie werden in den eigenen Grenzen bleiben und zwei Naturen sein. Nach dem Begriff der Wesenheit ist eben der Körper mit dem Unkörperlichen nicht identisch. Darum darf man, wenn S. 166 man beim Menschen von einer Natur redet — nicht wegen der Identität der wesenhaften Beschaffenheit von Seele und Leib, sondern wegen der Gleichheit der unter eine Art befaßten Individuen —, nicht auch bei Christus von einer Natur reden, wo es eine Art, die viele Hypostasen umfaßt, nicht gibt.
Ferner: Jede Zusammensetzung, sagt man, bestehe aus dem zunächst Verbundenen. Denn wir sagen nicht, das Haus sei aus Erde und Wasser zusammengesetzt, sondern aus Ziegelsteinen und Holz. Sonst müßte man sagen, auch der Mensch sei wenigstens aus fünf Naturen zusammengesetzt, aus den vier Elementen und der Seele. So ziehen wir auch bei unserem Herrn Jesus Christus nicht die Teile der Teile in Betracht, sondern das zunächst Verbundene, Gottheit und Menschheit 5.
Ferner: Wenn wir sagen, der Mensch habe zwei Naturen, und darum genötigt sein werden, bei Christus drei Naturen anzunehmen, so werdet auch ihr, da ihr den Menschen aus zwei Naturen bestehen laßt, lehren, Christus bestehe aus drei Naturen. Dasselbe gilt auch von den Wirksamkeiten. Denn die Wirksamkeit muß der Natur entsprechen. Daß aber der Mensch zweinaturig heißt und ist, bezeugt Gregor der Theologe 6, da er sagt: „Denn zwei Naturen sind Gott und Mensch, weil auch Seele und Leib es sind.“ Und in der Rede über die Taufe sagt er also: „Da wir zweifach sind, aus Seele und Leib, der sichtbaren und der unsichtbaren Natur [bestehen], so ist zweifach auch die Reinigung, durch Wasser und Geist 7.“
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Fast wörtlich aus Fragm. II des Patriarchen Anastasius I. von Antiochien (559—599) [Migne, P. gr. 89, 1283 B]. Doctr. Patr. de incarn. Verb. S. 204, 20 f. ↩
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Dieser Abschnitt ist wörtlich aus Fragm. II des Anastasius (Migne, l. c.). Doctr. Patr. S. 204, 22—26. ↩
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Athan., Ad. Serap. ep. 1, 26 (Migne, P. gr. 26, 589 C). Bis hierher alles aus Fragm. II des Anastasius, das kursiv Gedruckte wörtlich, das andere dem Sinne nach. Migne, l. c. Doctr. Patr. p. 204, 26 u. 205, 1—15. ↩
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Wörtlich aus den Fragmenten des Eulogius, Patriarchen von Alexandrien (580—607) [Migne, P. gr. 86, 2, 2953 C]. Doctr. Patr. p. 205, 20 f. Dieser Satz des Eulogius folgt in der Doctrina unmittelbar auf den aus den Fragmenten des Anastasius angeführten Text. ↩
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In diesem Abschnitt hat Johannes ein Fragment des Heraklian, Bischof von Chalzedon um 500, benützt, besonders hat er daraus das Beispiel vom Haus genommen. Das kursiv Gedruckte ist wörtlich aus dem Fragment (Doctr. Patr. de incarn. Verb. S. 207, 19 f.—208. Das Fragment ist auch bei Migne, P. gr. 94, 1065 Anm. 40). ↩
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Ep. 101, 4 (Migne, P. gr. 37, 180 A). Doctr. Patr. de incarn. Verb. p. 11, I. ↩
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Orat. 40, 8 (Migne, P. gr. 36, 368 A). Doctr. Patr. de incarn. Verb. p. 207, VII. ↩