Siebenundvierzigster Vortrag: Über die Stelle: „Denn wenn durch die Übertretung des einen durch den einen der Tod herrschte...“ bis: „da mit auch die Gnade herrsche durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch unseren Herrn Jesus Christus.“ Röm 5,17-21
S. 259Wenn jemand einen Becher kalten Wassers dem durstigen Wanderer reicht, erfrischt er zwar ein wenig das Herz des Erhitzten und hilft dem äußeren Menschen wohl ganz, aber er löscht doch nicht ganz den Durst im Innern. So wird auch unsere Rede, die den gegenwärtigen Verhältnissen entsprechend und wegen der Zeit schnell beendigt sein muß, denen nicht genügen, die das große Geheimnis der göttlichen Weisheit erkennen wollen. Denn wenn das ganze Leben des Menchen [zu] kurz ist, um alle menschliche Wissenschaft ganz zu erlernen, welche Zeit, glauben wir wohl, wird genügen, die Wissenschaft Gottes zu erlernen? Verzeiht mir also, Brüder, wenn ich in dieser kurzen Zeit, in kaum einer Stunde nicht vermag, Licht zu bringen in das Dunkel, zu eröffnen, was verschlossen ist, sicherzustellen, was zweifelhaft ist, hervorzuholen, was tief verborgen ist, wenn ich das unaussprechliche Geheimnis so vieler Jahrhunderte in keiner Weise darlegen und aussprechen kann, wenn wir dies namentlich nicht vorsichtig genug für die Streitbaren, nicht sicher genug für die Schwachen, nicht überzeugend genug für die Gläubigen, nicht standhaft genug für die Ungläubigen zu tun vermögen. Heute aber ergießen sich die Worte des Apostels in so klarem Lichte ganz dem Geiste der Zuhörer ein, und dem katholischen Gemüte bleibt kein Zweifel mehr, wenn er spricht: „Denn wenn durch die Übertretung des einen der Tod herrschte durch den einen“1 . Darum wollen wir jeden Eifer, schön zu reden2 , beiseite setzen S. 260und uns in aller Einfalt anlehnen an die Aussprüche des Apostel, damit denen, die die Wahrheit zu wissen verlangen, durch unsere Rede kein Zweifel erzeugt werde. „Denn wenn“, wie er sagt, „durch die Sünde des einen durch den einen der Tod herrschte“, warum bemüht sich der evangelische Lehrer so sehr, klarzumachen und zu beweisen, warum der Tod von einem und dem ersten Menschen für die Nachkommen erworben sei?
Genügte denn nicht jener Satz, der sagt: „Gott hat den Tod nicht gemacht“?3 . Und so kann ich es nicht verstehen, warum einige den so grausamen und unbarmherzigen Tod von Gott erschaffen sein lassen4 . Niemand glaubt ohne Sünde, dass der so liebe, so gute Gott den Tod hätte schaffen können, dessen Urheber die ganze Welt in ständigem Schmerz, mit Seufzen und Tränen anklagt und verwünsacht. Wenn der Tod auch bei den Menschen eine Strafe für die Verbrechen ist, wie wagt man dann zu glauben, dass Gott denselben dem Menschen anerschaffen und ihn zur Strafe dem Schuldlosen selbst noch früher als das Leben eingepflanzt habe? Doch laßt uns den Apostel hören. „Denn wenn durch die Sünde des einen der Tod herrschte durch den einen, werden weit mehr sie, die die Fülle der Gnade und der Gabe und der Gerechtigkeit empfangen, im Leben herrschen durch den einen Jesus Christus“5 , Seht da, hier einer und da einer, Adam und Christus. Durch jenen herrschte die Sünde zum Tode, durch diesen die Gnade zum Leben. Auch sind sie beide der Urgrund des Lebens und des Todes, der Vergebung und der Bestrafung, der ersehnten Befreiung wie der äußersten Verdammnis. Dies beweisen und erklären die folgenden Worte des Apostels: „Wie es also durch des einen Sünde für alle Menschen zur Verdammnis kam, so auch durch des einen Gerechtigkeit für alle Menschen zur Rechtfertigung des S. 261Lebens“6 . Durch den einen und durch den andern herrscht entweder der Tod oder wird das Leben gewährt. Was kann also noch die Rede des Erklärers dem hinzufügen? Wenn man darüber schweigt, hört jeder Streit auf. „Durch des einen Sünde kam es für alle Menschen zur Verdammnis, so auch durch des einen Gerechtigkeit für alle Menschen zur Rechtfertigung des Lebens.“ Wie der Fluß von der Quelle, oder die Frucht von dem Samen, so hängt die Nachkommenschaft von ihrem Usprung ab, ob verurteilt oder errettet, die noch deutlicher bewiesen wird aus dem, was der Apostel noch hinzufügt:
„Denn wir durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen Sünder wurden, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechten gemacht werden“7 . Mag der Mensch also Sünder sein, damit Gott gerecht sei; denn die Schuld fließt reich über auf den Richter, wenn die Strafe den Unschuldigen trifft. Und darum sagte er: „Wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen Sünder wurden“. Sie sollten sich als teilhaftig der Schuld dessen wissen, als dessen Strafgenossen sie sich fühlen müßten. Doch nun sollen auch die Verehrer des Gesetzes vernehmen, was das Gesetz nach dem Zeugnis des Apostels genutzt hat. „Das Gesetz aber“, heißt es, „ist hinzugekommen, damit die Sünde überhand nehme“8 . Seht, wie der Apostel sagt: Nicht eine Verminderung der Sünden brachte das Gesetz, sondern eine Vermehrung, doch nicht aus sich, Brüder, sondern durch den, der das Gesetz wegen seiner Schwachheit nicht ertragen konnte. Nicht die Fülle des Lichtes blendet die Augen, da es ja nur für die Augen von Gott erschaffen ist, sondern die Schwäche der Augen kann die volle Klarheit des Lichtes nicht aushalten und ertragen. So beschwert auch das Gesetz, Brüder, das aus sich S. 262wahrlich gerecht, wahrlich heilig genug ist, mehr und mehr den Fehlenden und offenbart ihn als solchen, indem es von dem schwachen Menschen eine harte Zucht verlangte. Und warum dies, Brüder? Damit der durch die Gnade und die Vergebung des Schöpfers zurückkehre zum Leben, der durch seinen Stolz und seine Unwissenheit, indem er sich auch noch so zu seinem Nachteil seiner Unschuld rühmte, in die Schuld und Strafe des Stammvaters geraten war. Eine Krankheit lag also tief verborgen, um derentwillen das Innere alles Markes und die Gänge aller Adern strebten nach dem Verderben aller Lebenskräfte, und erzeugte eine gewisse Ansteckung9 in allen inneren Teilen. Das Gesetz kam, das die Wunde offenbarte und auch zu gleich für die alte Krankheit des himmlischen Arztes Ankunft verkündete. Das Gesetz kam, damit es durch die Linderungen des Gesetzes an die Oberfläche10 treibe, was tief im Innern wütete zum tödlichen Verderben. Das Gesetz kam, damit es wie mit dem Schwerte der Vorschriften gleichsam das veraltete Geschwür aufbreche und eine heilsame Ausgießung den so lange darunter sich sammelnden Eiter entferne. Doch, Brüder, konnte es selbst nicht aus sich weder die Wunde schließen noch auch dem Kranken die volle Gesundheit wiedergeben. Sobald aber der Kranke endlich dies sah und der Elende seinen Zustand erkannte, beeilte er sich, schnell zum Arzt zu kommen, damit das, was durch das Gesetz offenkundig und durch das Gesetz selbst noch vergößert worden war, geheilt werde durch die Kunst und Gnade dieses so großen Arztes.
Wir sagten, Brüder, die Wunde sei noch größer geworden; denn nach dem Einschnitt wird Fäulnis, Geruch, Ekelhaftigkeit, durch das Abschneiden der Brand der Wunde selbst erzeugt, und das Aussehen der elenden Wunde selbst wird durch die Pflege noch schlimmer, als es dem Unkundigen erschien, solange die Gefahr verborgen war. Da kam der Arzt, und kam dem trotz aller Pflege und aller Quälereien der Pflege noch mehr ermatteten und übermüdeten [Menschen] zu Hilfe durch die S. 263Kraft seines bloßen Wortes, wie jener Hauptmann bekennt, wenn er sagt: „Sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund“11 ; damit auch erfüllt werde jenes Wort des Propheten: „Er sandte aus sein Wort und heilte sie“12 . Deshalb fährt [der Apostel] weiter fort: „Wo die Sünde überschwenglich war, war die Gnade noch überschwenglicher“13 , als ob er sagen wollte: Wo die Wunde weit aufklaffte, ergoß sich überreich der heilende Balsam. Niemand also sei undankbar gegen das Gesetz. Denn wen es krank und darniederliegend gefunden hatte, den erhob es, pflegte es und führte ihn, um ihn zu heilen, in heilsamem Jubel zu dem Arzte selbst hin, „damit“, wie der Apostel sagt, „wie die Sünde herrschte zum Tode, so die Gnade herrsche zum ewigen Leben durch unsern Herrn Jesum Christum“. Die Gnade herrschte zum Leben, die Sünde zum Tode. Der echte Glaube hält Gott nicht für den Urheber des Todes, für den Verderber des Menschen, sondern für seinen Heiland. Der Tod ist Schuld des Menschen, der Sünde, das sollen wir glauben, wie das Leben erschaffen und wiedergegeben ist nur durch Christus allein.