I. 1.
Soweit die leiblichen Augen in Frage kommen, sehen wir manche Leute, kennen sie aber doch nicht, da uns ihre Bestrebungen und ihr Lebenswandel unbekannt sind. Manche hingegen kennen wir, da ihre Liebe und Herzensneigung uns bekannt ist, sehen sie aber doch nicht. Zu diesen zähle ich auch dich, und deshalb verlange ich um so mehr, dich zu sehen, damit du zu jenen gehörest, die man sowohl sieht als auch kennt. Denn jene, die uns unter die Augen kommen, ohne daß wir sie S. 722 kennen, flößen uns nicht nur kein Verlangen ein, sondern sind uns kaum erträglich, wenn sich nicht an ihnen die Schönheit des inneren Menschen durch einige Anzeichen zu erkennen gibt. Wenn aber bei jemand, wie es bei dir der Fall ist, sich die Seele früher zu erkennen gibt, als der Leib sich den Augen zeigt, so kennen wir ihn zwar schon, aber wir verlangen ihn gerade deshalb auch zu sehen, damit die persönliche Erscheinung uns eine noch weit höhere und innigere Freude an dem verleihe, dessen Inneres uns bereits bekannt und befreundet ist. Indessen wird uns Gott hoffentlich noch das Vergnügen deiner persönlichen Bekanntschaft schenken, wenn, wie wir erflehen, ruhigere und friedlichere Verhältnisse unter den Menschen herrschen, damit es nach den Gesetzen der Liebe, nicht aus lästigem Zwang geschehe. Nun will ich, so gut ich es mit Hilfe des Herrn imstande sein werde, auf jene Fragen antworten, die du außer dem Briefe auf einem besonderen Zettel an mich gestellt hast.