1. Die Pflicht des Disputierens hat auch ihre Grenze.
Band 1, S. 79 Wenn die Menschen ihre in langer Gewöhnung matt und krank gewordene Gesinnung, statt sie unverfroren der Vernunftmäßigkeit der offenkundigen Wahrheit widerstreben zu lassen, heilender Lehre wie einem Arzneimittel anvertrauen wollten, bis sie mit Gottes Hilfe und durch die Kraft eines frommen Glaubens geheilt würde, dann brauchten die, die das Richtige haben und ihre Meinungen hinreichend klar zum Ausdruck bringen, zur Widerlegung jeglichen Irrtums haltloser Meinung nicht viel Worte zu machen. So aber, weil diese Unverständigen schwerer und bösartiger kranken und ihre unvernünftigen Regungen auch nach erschöpfender Beweisführung, wie sie nur immer ein Mensch seinem Mitmenschen schuldet, als ausbündige Vernunft und Wahrheit verteidigen, sei es in übergroßer Blindheit, die selbst das offen daliegende nicht sieht, oder in verstockter Hartnäckigkeit, die sich auch gegen das sperrt, was sie sieht, so ergibt sich in der Regel die Notwendigkeit, klare Dinge in aller Ausführlichkeit zu sagen, als wollten wir sie nicht etwa Sehenden zum Anschauen, Band 1, S. 80sondern gleichsam Tastenden, die die Augen zudrücken, zum Berühren darbieten. Und dennoch, wenn wir immer wieder auf Gegenrede antworten wollten, wann kämen wir da mit dem Streiten zu Ende und fänden für unsere Ausführungen ein Ziel? Denn die, welche das Vorgebrachte nicht verstehen oder in der Widerspenstigkeit ihres Sinnes so hartnäckig sind, daß sie sich gegen ihre bessere Einsicht verschließen, die erwidern, wie geschrieben steht1, und „sprechen ungerechte Rede“ und sind unermüdlich in haltlosen Meinungen. Es ist leicht einzusehen, eine wie endlose, mühevolle und unfruchtbare Aufgabe es wäre, wollten wir ihre Einwendungen jedesmal widerlegen, so oft sie mit trotziger Stirn, nur um unsern Ausführungen zu widersprechen, irgendetwas vorbringen, unbekümmert darum, was sie sprechen. Daher sollst du, mein Sohn Marcellin, und sollen die andern, denen diese unsere Arbeit zu ersprießlichem und reichlichem Gebrauche dienen will, meine Schriften nicht danach beurteilen, ob sie jedesmal eine Erwiderung haben auf das, was ihr etwa dagegen einwenden hört, damit ihr nicht jenen „Weiblein“ gleichet, „die immer lernen und nie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen können“2.