2. Kapitel. Die Dreiheit in der Wahrnehmung.
2. Wenn wir also einen Körper sehen, so lassen sich — es ist dies ganz leicht — folgende drei Dinge beobachten und auseinanderhalten. Erstlich der Gegenstand, den wir sehen, sei es ein Stein oder eine Flamme oder irgend sonst etwas, was man mit den Augen sehen kann S. 96 — dies konnte natürlich da sein, bevor es gesehen wurde —, ferner das Schauen (visio), das nicht da war, bevor wir den dem Sinnesvermögen begegnenden Gegenstand wahrnahmen, drittens jene Wirklichkeit, welche den Gesichtssinn auf dem geschauten Gegenstand, solange er gesehen wird, festhält, das heißt die Aufmerksamkeit der Seele. Zwischen diesen dreien nun besteht offenkundig nicht nur ein Unterschied, sondern auch Naturverschiedenheit. Erstlich ist ja jener sichtbare körperliche Gegenstand von einer ganz anderen Natur als der Gesichtssinn, der auf jenen fallen muß, damit es zum Schauen kommt. Und die Schau selbst: erscheint sie als etwas anderes denn als der Sinn, der von dem wahrgenommenen Gegenstand geformt ist? Wenn auch, sobald der sichtbare Gegenstand entfernt wird, kein Schauen mehr ist, ja auf keine Weise mehr ein solches Schauen sein kann, wenn kein Körper vorhanden ist, der geschaut werden kann, so ist doch der körperliche Gegenstand, durch den der Gesichtssinn geformt wird, wenn eben dieser Körper geschaut wird, in keiner Weise von derselben Substanz wie die Form, die von ihm dem Sinne eingeprägt wird und die eben Schau genannt wird. Der geschaute Körper kann nämlich in seinem Naturbestand von dem Geschautwerden getrennt werden, der Sinn aber, der vorher schon im lebendigen Menschen war, noch bevor er schaute, was er schauen konnte, als er auf etwas Schaubares stieß, oder die Schau, die im Sinne vom schaubaren körperlichen Gegenstand her entsteht, wenn er eben mit dem Sinne verbunden ist und geschaut wird, der Sinn also oder die Schau, das heißt der von außen her geformte Sinn gehört zur Natur des Lebewesens, die etwas ganz anderes ist als jener körperliche Gegenstand, den wir im Schauen wahrnehmen, durch den der Sinn nicht so geformt wird, daß er Sinn wird, sondern so, daß er Schau wird. Wenn nämlich der Sinn nicht schon vor dem sinnfälligen Gegenstand in uns wäre, dann würden S. 97 wir uns nicht von den Blinden unterscheiden, solange wir nichts sehen, sei es, weil es finster ist, sei es, weil dem Lichte der Zutritt versperrt ist. Dadurch unterscheiden wir uns ja von ihnen, daß uns, auch wenn wir nicht sehen, das Organ eigen ist, durch das wir sehen können und das eben Sinn genannt wird, daß es jenen aber nicht eigen ist — aus keinem anderen Grunde als wegen dieses Mangels werden sie eben blind genannt. Ebenso ist jene Aufmerksamkeit des Geistes, welche den Sinn am geschauten Gegenstand festhält und beide miteinander verbindet, durch ihre Natur nicht nur von dem sichtbaren Gegenstande verschieden — sie ist ja Geist, jener Körper —, sondern auch vom Sinne und von der Schau. Denn die Aufmerksamkeit ist allein der Seele eigen. Der Gesichtssinn aber wird aus keinem anderen Grunde Leibessinn genannt als deshalb, weil auch die Augen Glieder des Leibes sind; und obgleich der entseelte Leib keine Wahrnehmung vollzieht, so vollzieht doch die mit dem Leibe vermischte Seele durch ein leibliches Mittel eine Wahrnehmung; dieses Mittel heißt eben Sinn.1 Auch wenn dieser unter körperlichen S. 98 Leiden entfernt — wenn jemand geblendet wird — und ausgelöscht wird, so bleibt doch eben die Seele, und ihre Aufmerksamkeit kann zwar nach dem Verlust des Augenlichtes den Leibessinn nicht mehr nach außen auf einen Körper lenken und mit ihm vereinen, damit er ihn schaue, und nicht mehr, wenn dieser geschaut wird, den Blick auf ihn heften; gerade durch ihr Hintrachten jedoch weist sie darauf hin, daß sie, auch wenn der Leibessinn entfernt wurde, doch nicht zugrundegehen und nicht gemindert werden konnte. Es bleibt nämlich ein gewisses Verlangen, zu sehen, unversehrt erhalten, ob das Schauen selbst verwirklicht werden kann oder nicht. Diese drei also, der körperliche Gegenstand, der geschaut wird, die Schau selbst und die beide verbindende Aufmerksamkeit, lassen sich offensichtlich voneinander wegkennen, nicht nur wegen des Eigenseins eines jenen, sondern auch wegen ihrer Naturverschiedenheit.
3. Wenn bei dem Wahrnehmungsvorgang der Sinn auch nicht vom Körper herkommt, der geschaut wird, S. 99 sondern vom Leibe des wahrnehmenden lebendigen Menschen, dem die Seele auf eine gewisse, ihr eigentümliche, wunderbare Weise angepaßt ist,2 so wird doch die Schau vom Körper gezeugt, der geschaut wird, das heißt von ihm wird der Sinn selbst geformt, so daß er nicht mehr bloß ein Sinn ist, der auch im Dunkeln unversehrt sein kann, wenn nur die Augen wohlbehalten sind, so daß er vielmehr nun auch geformter Sinn ist, der Schau genannt wird. Es wird also die Schau von dem sichtbaren Ding gezeugt, aber nicht von ihm allein; es muß auch ein Schauender da sein. Daher wird die Schau von dem sichtbaren Gegenstand und dem Schauenden gezeugt, so freilich, daß vom Schauenden der Gesichtssinn und die Aufmerksamkeit des Hinschauenden und Hinblickenden stammt, daß jene Formung des Sinnes jedoch, die Schau genannt wird, allein vom Körper, der geschaut wird, eingeprägt wird, das heißt von einem sichtbaren Ding,3 Wenn man dieses wegnimmt, dann bleibt von der Form nichts mehr übrig, die dem Sinne innewohnte, solange das, was geschaut wurde, da war. Der Sinn selber jedoch bleibt, da er war, auch bevor man etwas mit den Sinnen wahrnahm, so wie im Wasser eine Spur solange bleibt, als der Körper, der sie eindrückt, darinnen ist. Wenn er entfernt wird, dann bleibt keine Spur mehr, während das Wasser, das war, auch schon bevor es jene Form des Körpers aufnahm, zurückbleibt. Deshalb können wir zwar nicht sagen, daß das sichtbare Ding den Sinn zeuge; es zeugt jedoch die Form als ein ihm ähnliches Abbild, das im Sinn entsteht, wenn wir im Schauen etwas wahrnehmen. Wir können aber beim Sehen die Form des Körpers, den wir schauen, und die Form, die von jener im Sinne des Schauenden entsteht, durch eben diesen Sinn nicht auseinanderhalten, weil die Verbindung so innig ist, daß S. 100 für das Auseinanderhalten in der Schau keine Möglichkeit mehr offensteht. Wir schließen aber mit dem Verstande, daß wir in keiner Weise etwas hätten wahrnehmen können, wenn nicht in unserem Sinne irgendwie ein Abbild des geschauten Körpers entstünde. So ist ja auch, wenn ein Ring in Wachs eingedrückt wird, nicht etwa deshalb kein Bild von ihm entstanden, weil wir es in seinem Sondersein erst sehen können, wenn das Wachs vom Ringe entfernt ist. Weil jedoch nach der Entfernung des Wachses bleibt, was entstand, so daß man es nunmehr sehen kann, deshalb kann man sich leicht die Überzeugung bilden, daß dem Wachse die Form vom Ringe auch schon eingedrückt war, bevor der Ring von ihm weggenommen wurde. Wenn aber der Ring in eine durchsichtige Flüssigkeit getaucht würde, so würde nach seiner Entfernung nichts Abbildliches mehr zu sehen sein. Und doch müßte der Verstand trotzdem die zwei Dinge auseinanderhalten und sehen, daß in jener Flüssigkeit, bevor der Ring herausgenommen wurde, die Form des Ringes bestand, die zu unterscheiden ist von jener Form, die dem Ring selbst eigen ist, aus der eben jene Form gebildet wurde, die nach der Wegnahme des Ringes nicht mehr bestehen kann, wenngleich die Form im Ringe, aus der jene entstanden ist, selber bleibt. So ist im Gesichtssinn, solange der Körper gesehen wird, nicht deshalb kein Abbild des Körpers, der gesehen wird, weil es nach seiner Entfernung nicht zurückbleibt. Das ist aber der Grund, warum es so schwer ist, Geister von langsamerer Fassungskraft davon zu überzeugen, daß in unserem Sinne ein Bild des sichtbaren Dinges gebildet wird, wenn wir es sehen, und daß eben diese Form die Schau ist.
4. Wer aber etwa beachtet, was ich jetzt erwähnen werde, wird mit dieser Untersuchung keine so große Mühe haben. Wenn wir lange Zeit hindurch angespannt auf einen Lichtkörper hinschauen und dann die Augen S. 101 schließen, dann kommt es häufig vor, daß in unserem Auge eine Art lichter Farben gleichsam hin und her zucken, mannigfaltig wechselnde Formen annehmend, immer weniger und weniger leuchtend, bis sie zuletzt ganz aufhören. Man muß das so erklären, daß es sich um Überreste jener Form handelt, die im Sinne entstand, als der lichte Körper gesehen wurde, und daß diese nach und nach und gleichsam schrittweise in wechselnden Erscheinungen verschwinden. Oft sind uns nämlich auch die Gitter der in die Mauer eingesetzten Fenster, wenn wir sie gerade anschauten, in solchen Farben erschienen; es ist sonach klar, daß diesen Zustand in unserem Sinne der Körper verursacht, der gesehen wurde. Diese Form war also auch schon vorhanden, als wir den Gegenstand schauten; ja sie war da sogar deutlicher und ausgeprägter. Sie war aber so innig mit der Gestalt des Gegenstandes, der gesehen wurde, verbunden, daß sie gar nicht von ihm gesondert geschaut werden konnte; sie war eben die Schau. Ja, wenn das Flämmchen einer Lampe, sofern man die Strahlen der Augen gewissermaßen auseinanderlaufen läßt, gleichsam verdoppelt wird,4 entstehen sogar zwei Schauungen, obwohl das geschaute Ding eines ist. Je für sich gesondert werden ja jene aus dem Auge hervorleuchtenden Strahlen vom Körper getroffen, wenn man sie nicht auf den anzuschauenden Körper gleichmäßig und vereinigt hineilen läßt, so daß aus den gedoppelten Strahlen ein Blick wird. Wenn wir daher ein Auge schließen, dann sehen wir nicht einen doppelten Lichtschein, sondern einen, wie es auch einer ist. Warum aber, wenn wir das linke Auge schließen, jene Erscheinung, welche rechts war, nicht mehr gesehen wird, und umgekehrt, wenn wir das rechte Auge schließen, jene dem Blicke entschwindet, die links war, das zu untersuchen und zu erörtern, würde zu weit führen und ist auch für unsere augenblickliche Frage nicht notwendig. Für die in S. 102 Angriff genommene Frage genügt es nämlich, zu wissen: Wenn in unserem Sinn nicht ein gewisses, der geschauten Sache ganz ähnliches Abbild entstünde, dann würden nicht entsprechend der Zahl der Augen die Lichterscheinungen verdoppelt werden, wenn eine gewisse Weise des Schauens angewandt wird, welche die zusammenlaufenden Strahlen voneinander zu trennen vermag. Mit einem Auge kann ja, mag man es wie immer zum Gegenstand hinwenden, auf ihn lenken, es verdrehen, wenn das andere geschlossen ist, in keiner Weise, was eines ist, doppelt gesehen werden.
5. Da dies so ist, wollen wir uns darauf besinnen, wie diese drei, wenngleich sie verschiedener Natur sind, doch zu einer gewissen Einheit sich zusammenfügen: die Gestalt des Körpers, den man sieht, sein dem Sinne eingedrücktes Bild, das die Schau oder der geformte Sinn ist, und der Wille der Seele, der den Sinn zum sinnfälligen Gegenstand hinbewegt und die Schau selbst an ihm festhält. Das erste hiervon, das heißt der sichtbare Gegenstand selbst, gehört nicht zur Natur des beseelten Lebewesens, wenn wir nicht gerade unseren Leib anschauen. Das zweite aber gehört in der Weise zu ihr, daß es im Leibe entsteht und vermittels des Leibes in der Seele.5 Es entsteht nämlich im Sinnesvermögen, das weder ohne Leib ist noch ohne Seele. Das dritte aber gehört allein zur Seele, weil es Wille ist. Während also diese drei so verschieden sind in ihrem substantiellen Sein, fügen sie sich doch zu einer solchen Einheit zusammen, daß man die beiden ersten kaum mit Hilfe des urteilenden Verstandes auseinanderhalten kann, die Gestalt des Körpers nämlich, der geschaut wird, und sein Bild, das im Sinne entsteht, das heißt die Schau. Der Wille aber hat eine solche Kraft, diese beiden zu verbinden, daß er den Sinn sowohl zur Formung an den Gegenstand, der gesehen wird, heranbewegt, wie auch nach der Formung an dem S. 103 Gegenstand festhält. Und wenn er so mächtig ist, daß er Liebe genannt werden kann oder Begierde oder Lust, dann wirkt er auch auf den übrigen Körper des Lebewesens heftig ein; und wo sich ihm nicht ein etwas träger oder schwerfälliger Stoff in den Weg stellt, da wandelt er ihn zu entsprechender Gestalt und Farbe. So kann man sehen, daß der kleine Leib des Chamäleon sehr leicht nach den Farben, die es sieht, sich wandelt und ändert. Bei anderen Tieren aber, deren leibliche Beschaffenheit einer Umwandlung nicht günstig ist, weisen die Jungen häufig die Spuren von dem auf, was die Mütter mit großer Lust bei der Begattung anschauten. Je zarter nämlich und sozusagen gestaltungsfähiger die Urkeime sind, um so wirksamer und bereitwilliger folgen sie der Richtung der mütterlichen Seele und der Vorstellung von dem Körper, die in dieser entstand, als sie mit Gier auf ihn hinblickte. Hierfür ließen sich Beispiele in großer Zahl anführen. Aber eines aus den getreuesten Büchern genügt. Jakob bietet es, indem er, auf daß die Schafe und Ziegen gesprenkelte Jungen würfen, vor sie verschiedenfarbige Stäbe in die Wasserrinnen legte, welche sie beim Trinken zur Zeit, als sie sich begatteten, anschauen sollten.6
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Nach Augustinus ist in dem hierarchisch gestuften Sein die Seele dem Leib übergeordnet. Nun kann zwar das Höhere auf das Niedere einwirken, nicht aber das Niedere auf das Höhere. Daher kann die Seele auf den Leib, nicht aber der Leib auf die Seele einwirken. Dadurch ergibt sich eine Schwierigkeit für die Erklärung der Wahrnehmung. Diese wird ja nicht von der Seele allein verursacht, sondern von ihr und dem wahrgenommenen Gegenstande zugleich. Der letztere tritt als Teilursache auf, sofern er auf das Leibesorgan einwirkt, in ihm einen bestimmten Zustand hervorruft. Da erhebt sich die Frage: wie kommt dieser Vorgang im Leibesorgan zur Kenntnis der Seele, wo doch eine Einwirkung des Leibes auf die Seele unmöglich ist? Die Seele ist eine vernunftbegabte Substanz, angelegt zur Leitung des Leibes. Sie hat also den guten Gang der Leibesorgane sicherzustellen und muß, um dies zu können, alle wichtigen vom Körper erlittenen Einwirkungen überwachen. Die Seele wirkt und wacht sonach beständig in jedem Organ des Körpers, dem sie gegenwärtig ist. Sie ist sonach bei der Sinneserkenntnis durchaus aktiv, sofern sie im Leibesorgan alle dort vorkommenden Vorgänge infolge ihrer Gegenwart beim Leibe merkt. Sie empfängt bei der Sinneserkenntnis nichts von den Leibesorganen, aber es entgeht ihr nichts von den von diesen Organen erfahrenen Veränderungen. Diese sind eher ein an die Seele vom Leibe gerichteter Ruf als eine auf die Seele ausgeübte Einwirkung. In einem gewissen Sinne freilich ist die Seele auch leidentlich bei der Wahrnehmung beteiligt. Es handelt sich da um ein Erleiden, das die Seele infolge einer von ihr auf sich selbst gerichteten Tätigkeit erfährt. Weil die Seele die Wahrnehmungen nicht fertig von draußen empfängt, muß sie diese tatsächlich aus sich hervorziehen und folglich zu ihrer Bildung ihnen etwas von der eigenen Substanz mitgeben. Ja, obgleich die Seele eine Einwirkung nur von sich selbst erfährt, wenn sie wahrnimmt, so muß sie sich trotzdem gewissermaßen abnützen und für den Körper verzehren, um so sich ihm anzupassen und über ihn zu wachen. Sie, die Höherstehende, bringt also Abbilder des Tieferstehenden hervor, indem sie sich gewissermaßen zu seinem Vorteile erniedrigt. Abschließend läßt sich sagen, daß nach Augustinus die Wahrnehmung selber schon ein Akt des Geistes ist. Vgl für diese Erklärung Gilson a. a. O. 105―123. ↩
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Vgl. die vorige Anmerkung. ↩
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Augustinus kennt sonach keinen Okkasionalismus und keine angeborenen Erkenntnisse. Siehe Gilson a. a. O. ↩
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Vgl. Seite 47. ↩
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Vgl. Seite 97, Anm. 1. ↩
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Gen. 30, 37―41. ↩