Rabban Mâr Abraham 1.
S. 318 Kanonen, die niedergeschrieben wurden in den Tagen des heiligen Rabban Mâr Abraham, des Priesters, Mönches und Hauptes der Brüder, der Fremdlinge (ξένοι), die in der Gemeinschaft des Klosters von Mardê wohnen, oder des großen Klosters auf dem Berge Izalâ.
Im Monat Juni des vierzigsten Regierungsξahres des Königs Kosrav2versammelten uns wir Brüder, die wir im Kloster von Mardê wohnen, auf Anordnung des Simon, Bischofs und Metropoliten von Nisibis3. Und es war uns allen gemeinsam folgender Wille.
Weil durch die Gnade unseres angebeteten Gottes, der will, daß alle Menschen leben und sich zur Erkenntnis der Wahrheit wenden, der auch über uns den Reichtum seiner Barmherzigkeit ausgoß, der uns dieses Na- S. 319 mens gewürdigt, da wir seiner nicht würdig sind, da wir die ärmsten und niedrigsten aller Menschen sind, er in seinem Erbarmen gab, daß wir sind und daß wir recht sind als von ihm (geschaffen), wir aber durch Ungebundenheit und Nachlässigkeit der Sitten diesen Namen, der über uns genannt wurde, verachteten, so daß sich erfüllt, was in der Heiligen Schrift gesagt ist4: „Alle gehen hin im Willen ihres Herzens und im Sinne ihrer Seele", bekennen auch wir, daß wir mehr als alle sündhaft und gering sind. Deshalb bitten wir alle Gottes Barmherzigkeit, daß er der Schwäche unseres Willens helfe, daß wir in uns alles Wohlgefallen des Willens Gottes vollenden und vollziehen. "Denn5 er regt in euch an sowohl das Wollen, wie auch das Vollbringen dessen, was ihr wollt." Ferner spricht der Herr63 „Ohne mich könnt ihr nichts tun." Da wir das als wahr glauben, flehen wir seine Gnade an, daß er in uns die Kraft gebe, in Gedanken, Wort und Werk nach dem Wohlgefallen seines Willens erfunden zu werden, daß er uns Raum zur Buße gebe.
Weil aber die Brüder, die hier wohnen, seit der Zeit, da wir uns an diesem Orte niederließen, sich gemüht und angestrengt, sich Höhlen auszugraben und Zellen zu bauen, um in ihnen zu wohnen und deshalb als Neulinge in diesen Wandel eintraten, unterließen wir, über uns festzusetzen, was der Korrektheit dieses Wandels geziemt. Jetzt aber, da wir durch die Gnade des Herrn ein wenig von der körperlichen Mühe und Arbeit ausgeruht haben, gedachten wir, zu uns selbst gekommen, gemeinsam aus den göttlichen Schriften und den Worten der heiligen Väter etwas zur Heilung unserer Geschwüre und zur Pflege unserer Wunden Geeignetes auszuwählen. Wir wollen nun (im Vertrauen) auf die Kraft Gottes beginnen, indem wir diejenigen, welche auf diese Worte stoßen, bitten und anflehen, sie möchten von unserer Niedrigkeit nicht glauben, wir hätten aus uns selbst etwas festgesetzt. Denn weder für uns selbst S. 320 noch für andere sind wir Gesetzgeber; sondern wir sind Knechte und.Diener der anbetungswürdigen Gebote unseres guten Gottes. Deshalb fügen wir bei jedem Kanon, den wir den heiligen Schriften und den Worten der heiligen Väter entnehmen, kurze Hinweise daraus an.
Kanon 1. Zuerst ist die Ruhe nach dem Befehle der Väter und gemäß dem Apostel an die Thessaloniker, da er sagt7: „Ich bitte euch, Brüder, daß ihr überfließet und eifrig seid, ruhig und fleißig zu sein in euren Angelegenheiten." Und wieder sagt er8: „Diesen befehlen wir und bitten sie in unserm Herrn, Jesus Christus, daß sie in Ruhe arbeiten und ihr Brot essen." Und wiederum sagt Isaias9: „Das Werk der Gerechtigkeit ist Friede und das Wirken der Gerechtigkeit ist Ruhe." Und wieder sagt Abba Antonius10: „Wie der Fisch, wenn er aus dem Wasser gezogen wird, stirbt, so der Mönch, der sich außerhalb seiner Zelle aufhält." Aus (den Worten) Markus des Mönches: „Wenn der Körper nicht ruht, so ruht der Geist nicht." Die Ruhe wird aber durch folgende zwei Mittel bewahrt: durch beständiges Lesen und Gebet oder durch Handarbeit und Meditation, wie Abba Isaias sagt und wie auch der Weise sagt11: „Die Menge der Übel zeugt der Müßiggang." Und wieder12: „Jederzeit in Begierden liegt der Mensch, der nicht arbeitet." Lasset uns also in unserer Zelle in Ruhe aushalten und lasset uns den Müßiggang fliehen, der Schande bringt.
Kanon 2. Über das Fasten. Aus den Worten des Herrn13: „Wenn der Menschensohn weggenommen ist, dann werden sie fasten in jenen Tagen." Wiederum sagt S. 321 der Apostel14: „In vielem Fasten." Und wieder15: „Sie waren fastend und Gott anflehend." Wiederum aus den Vätern: „Das Fasten wird dich stärken vor Gott." Wiederum: „Er sei nicht nachlassend im Gehorsam des Fastens." Die Früchte des Fastens und den daraus (entspringenden) Nutzen können wir genau kennen lernen aus Moses, Elias und seinen Gefährten, dem Erlöser, den Aposteln und heiligen Vätern. Lasset uns also das Fasten beobachten, da es die Ursache vieler Güter ist.
Kanon 3. Über das Gebet, die Lesung und den Dienst der Zeiten. Aus den Worten des Herrn. Er sagte zu ihnen auch das Gleichnis, daß sie zu jeder Zeit beten und (es) sich nicht verdrießen lassen sollen16. Wiederum17: „Wachet und betet jederzeit" und so fort. Wiederum18: „Wachet und betet, damit ihr nicht in die Versuchung eintretet." Der Apostel sagt19: „Seid beständig im Gebete, und seid wachsam darin und bekennend." Auch Markus, (der Mönch) sagt: „Das Gebet ist die Mutter der Tugenden." — Über die Lesung schreibend sagt der Apostel seinem geliebten Timotheus20: „Bis ich komme, befleißige dich der Lesung, der Bitte und der Lehre. Darüber meditiere und darin (halte dich auf)." Gott, unser Herr, spricht zu Josue bar Nûn21: „Nicht gehe dieses Buch des Gesetzes an deinem Munde vorüber; sei darüber meditierend bei Nacht und bei Tag" und so fort. Wiederum spricht Moses zum Volke22: "Es sei dir ein Zeichen auf deinen Händen und ein Gedächtnis zwischen deinen Augen, damit das Gesetz des Herrn in deinem Munde sei." Aus den Vätern: „Ohne beständige Lesung und Flehen zu Gott kann ein schöner Wandel der Seele nicht sein." Der heilige Markus sagt: S. 322 „Bete zu Gott und er wird das Auge deines Geistes öffnen, damit du den aus dem Gebete und der Lesung (kommenden) Nutzen kennest." — Über den Dienst der Zeiten sagt der Psalmist23: „Siebenmal des Tages lobte ich dich wegen deiner gerechten Gerichte," Und dreimal des Tages pries (Daniel Gott) auf seinen Knieen und betete vor Gott24. Und25: „Als Simon und Johannes zugleich in den Tempel hinaufstiegen zur Zeit des Gebetes der neunten Stunde." Wiederum26: „Während sie ihm herrichteten, stieg Simon auf das Dach, um zu "beten, zur neunten Stunde." Wiederum27: „Herr, am Morgen höre meine Stimme, am Morgen will ich bereit sein und vor dir erscheinen." Wiederum28: „Mein Gebet ist wie Weihrauch vor dir und das Opfer meiner Hände ist wie ein Abendopfer." Laßt uns das erkennen und dafür Sorge tragen, indem wir das Wort des Psalmisten sprechen29: „In Ewigkeit will ich deine Gebote nicht vergessen; denn in ihnen ist mein Leben."
Kanon 4. Über das Stillschweigen, die Sanftmut und die Einsamkeit, sowie daß niemand den Brüdern dazwischen reden, daß man mit sanfter Stimme, nicht mit Geschrei und im Zorne reden soll.
Über das Stillschweigen sagt der Prophet Jeremias30: „Selig der Mann, der trägt dein Joch in seiner Jugend, der allein sitzt und schweigt" und so fort. Wiederum ist bei Arsenius in der Offenbarung gesagt: „Fliehe, schweige und sei still." Wiederum: „Schweige, halte dich nicht (für etwas)." — Über die Einsamkeit sagt Elias zu Gott31: „Ich fürchtete vor deiner Hand und saß allein." — Über die Sanftmut spricht der Herr bei Isaias32: „Auf wen soll ich schauen und wohnen, S. 323 außer auf den Sanftmütigen und im Geiste Demütigen, der fürchtet vor meinem Wort?" Wiederum33: „Lernet von mir, daß ich sanftmütig und demütig bin in meinem Herzen und ihr findet Ruhe für eure Seelen." — (Darüber), daß niemand den Brüdern dazwischen reden soll, (ist gesagt von) dem Weisen34: „Und mitten in den Erzählungen sollst du nicht reden." Und35: „Schweigen ist die Frucht der Weisheit." Und36: „Wer viel redet, offenbart seinen Geistesmangel." — Darüber, daß wir sanft reden sollen, nicht mit Geschrei und im Zorn. Der Apostel37: „Alle Bitterkeit, Zorn, Geschrei und Lästerung" und so fort. Wiederum38: „Laß ab vom Zorn" und so fort. Lasset uns also dieser Dinge befleißen; denn ohne sie ist es unmöglich, daß wir Gott gefallen.
Kanon 5. Darüber, daß während der vierzigtägigen Fasten kein Bruder die Zelle verlasse außer im Notfall und mit Erlaubnis der Gemeinschaft.
Kanon 6. Darüber, daß kein Bruder herumziehe in den Klöstern und Ortschaften, noch die Stadt (Nisibis?) betrete außer im Notfall einer Krankheit und mit Erlaubnis der Gemeinschaft. Auch soll er nicht in den Häusern herumziehen, noch unter den Gläubigen essen, oder etwas im Namen der Gemeinde oder irgendwie annehmen, so lange er bei uns ist.
Kanon 7. Darüber, daß niemand gegen seinen Bruder oder vor irgend jemand murre. Aus dem Psalmisten39: „Wer seinen Nächsten heimlich verleumdet, (den) verderbe ich." Und40: „Du saßest und dachtest gegen deinen Bruder" und so fort. Und41: „Murret S. 324 nicht, wie manche aus ihnen murrten" und so fort. Lasset uns also uns hüten vor der Verleumdung wie vor tödlichem Gift, damit wir nicht Genossen der Bösen seien.
Kanon 8. Darüber, daß am Sonntag, wenn sich die Brüder versammeln, der Bruder, der zuerst zur Kirche kommt, die Heilige Schrift nehme, sich an den bestimmten Platz setze und darin meditiere, bis alle Brüder zusammenkommen, so daß der Geist eines jeden, wenn er kommt, vom Hören der Lesung erfaßt werde und sie nicht zu schädlichem Geschwätz abirren.
Kanon 9. Daß das Fasten nicht gelöst werde außer aus Gründen wie die folgenden: körperliche Krankheit, Auskunft eines Gastes, weiter Weg, harte, den ganzen Tag (dauernde) Arbeit. Wer außer diesem gefunden wird, daß er es aus Läßigkeit löst, wisse, daß er unserer Gemeinschaft fremd ist.
Kanon 10. Daß die Brüder, die ihre Zellen gebaut, das oben Gesagte mit aller Genauigkeit beobachten sollen. Die neuen Brüder, die kommen, sollen eine bestimmte Zeit geprüft werden. Wenn ihnen von der Gemeinschaft erlaubt wird, Zellen zu errichten, sollen sie mit nichts ihre früheren Brüder ermüden. Soweit die Kraft der Gemeinschaft vermag, soll man ihnen nach der Gewohnheit helfen42.
Kanon 11. Ein Bruder, den man wegen Krankheit in die Stadt bringt, soll kein (Privat)haus der Gläubigen betreten, sondern in das Krankenhaus (ξενοδοχεῖον) ge- S. 325 bracht werden, damit er nicht den Gläubigen Grund eines Ärgernisses sei.
Kanon 12. Wenn jemand an seinem Bruder merkt, daß er etwas von dem oben Gesagten verachtet, so bringe er seine Sache nicht vor die Brüder, sie zu verwirren. Denn eine verworrene Sache verwirrt das Herz des Mannes43. Sondern er rufe ihn und rede zu ihm unter beiden allein nach dem Worte des Erlösers44: „Tadle ihn zwischen dir und ihm allein." Wenn er nicht (hört), vor zweien; wenn er nicht gehorcht, werde er zurechtgewiesen vor der ganzen Gemeinde. Wenn er aber streitet und Besserung nicht annimmt, so wisse er, daß er unserer Gemeinschaft fremd ist.
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Eine spätere Bearbeitung der hier folgenden beiden Regeln hat 'Abdîschô' von Nisibis, der größte Kanonist der nestorianischen Kirche, † 1318 in seinen Nomokanon aufgenommen. Dessen Ausgabe von A. Mai in Scriptorum vet. nova collectio, X p. 1, bietet S. 290 ff. den syr. Text, S. 127 ff. die lat. von A. Assemani gefertigte Übersetzung. Darnach englisch von Budge in Thomas v. Margâ, I, S. CXXXIVff. Anscheinend den Originaltext gab Chabot nach einer römischen Handschrift mit lat. Übersetzung heraus in Rendiconti della reale accad. dei Lincei, ser. 5, vol. 7, p. 38 ff., 76 ff. Nach ihm habe ich übersetzt. Eine Beschreibung des im Tur 'Abdîa gelegeneu Klosters bei Bell: Churches and monasteries of the T. A. (Zeitschr. f. Geschichte d. Architektur; Beiheft 9), S. 44 ff. u. Taf. 24—27. Auch Preusser, Nordmesopotaruische Denkmäler altchristl. u. islam. Zeit (17 wissenschaftliche Veröffentlich, d. deutschen Orientgesellschaft), S. 84 f. ↩
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Juni 571. ↩
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Wahrscheinlich derselbe, der auf der Synode Ischô'jahb I. i. J. 585 wegen Nichterscheinens, anscheinend als Gönner des Hannânâ suspendiert wurde und vielleicht auch der gleiche S., unter dem i. J. 590 durch Hannânâ eine Anzahl neuer Statuten der Schule von Nisibis erlassen wurde. ↩
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Vgl. Jer. 16, 12 ↩
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Phil, 2, 13. ↩
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Joh. 15, 5. ↩
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1 Thess. 4, 10. 11. ↩
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2 Thess. 3, 12. ↩
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Is. 32, 17. ↩
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Migne, P. G. 40, 1085. Paradisus patrum, p. III, n. 20, Ed. Bedjan, p. 453 (Chabot). ↩
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Sir. 33, 29. ↩
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Vgl. Spr. 21, 25. ↩
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Matth. 9, 15. ↩
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2 Kor. 11, 27. ↩
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Luk. 14, 23. ↩
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Apg. 18, 1. ↩
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Ebd. 21, 36. ↩
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Mark. 16, 38. ↩
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Kol. 4, 2. ↩
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1 Tim. 4, 13. ↩
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Jos. 1, 8. ↩
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Exod. 18, 9. ↩
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Ps. 118, 164. ↩
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Dan. 6, 10. ↩
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Apg. 3, 1. ↩
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Ebd. 10, 9. 10. ↩
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Ps. 5, 4. ↩
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Ebd. 140, 2. ↩
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Ebd. 118, 93. ↩
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Klagel. 3, 27. 28. ↩
-
Jer. 15, 17. ↩
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Is. 66, 2. ↩
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Matth. 11, 29. ↩
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Sir. 11, 8. ↩
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Ebd. 20, 5. ↩
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Ebd. 20, 8. ↩
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Eph. 4, 31. ↩
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Ps. 38, 8. ↩
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Ebd. 100, 5. ↩
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Ebd. 49, 20. ↩
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1 Kor. 10, 10. ↩
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Vgl. auch Ivan. 13 des Dâdîsohô'. In der Vita Bar 'Idtâ, der unter Mâr Abraham eintrat, wird erzählt, daß er nach der Ordnung drei Jahre im Koinobion lobte; danu unter dem Sogen und den Gebeten der Väter sich in eine Zolle zurückzog, die fern von der Kirche und dem Kloster an einem öden Platze war. Jeden Sonntag erhielt er Iür die Woche vom Kloster die Nahrung und ein Buch aus der Bibliothek. Hier lernte er unter anderem auswendig „das Buch des Mâr Nestorius, das Heraklidos genannt wird, das neuiioh aus dem Griechischen ins Syrische übersetzt wurde." ↩
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Sir. 37, 21. ↩
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Matth. 18. 15. ↩