Einleitung
S. 273 Die Überlieferung der Armenier schreibt dem Bischof Elische, der die Geschichte des wardanischen Krieges geschrieben hat, neben andern erbaulichen Werken die nachstehende Erklärung des Vaterunsers zu.
Die Zeugen dieser Überlieferung sind die Handschriften und im Mittelalter der Geschichtschreiber Kirakos von Gandzak, insofern er von Traktaten spricht, die Elische verfaßt hat.
Die venezianische Ausgabe der Werke des Elische vom Jahre 1859 stellt die Vaterunsererklärung zu den echten Schriften dieses Mannes. Auch Karekin Zharbanalean stellt sich in seiner armenischen Literaturgeschichte (Venedig 1897, S. 347), wie zuvor Sukias Samalian (Quadro della Notia letteraria di Armenia, Venezia 1829 S. 32) auf den Boden der Tradition. Aber es ist Karekin nicht entgangen, daß die Sprache dieser Erklärung nicht die Art der Geschichte des wardanischen Krieges trägt. Daher möchte er diese Arbeit für ein früheres Werk des Meisters halten, aus der Zeit, wo er die Kunst des Schreibens noch nicht in dem Maße gewonnen hatte, wie sie ihm später zu Gebot stand.
Aus dem Inhalt der kleinen Schrift ist es schwer, Kriterien für einen bestimmten Autor festzustellen. Man kann es aber auffällig finden, daß am Schluß des Gebetes keine Beziehung auf die Zerrüttung der kirchlichen und nationalen Verhältnisse der Armenier nach dem wardanischen Kriege genommen wird, wie sie bei Elische in der Rede für die Einsiedler vorkommt. Andererseits fehlt es nicht an Anspielungen auf die Umwelt, so Nr. 6 die Erinnerung an die Häufigkeit der Feier der heiligen S. 274 Messe, Nr. 5 die Erinnerung an gottesdienstliche Lieder, Nr. 6 die Hindeutung auf den Kommunionritus. Sind das Züge, die zum schriftstellerischen Bilde Elisches passen, so sind es doch Züge so allgemeiner Art, daß sie einen sicheren Schluß nicht begründen. Man würde aus dem Mangel an Bemerkungen, welche die schweren Zeiten der persischen Verfolgung nach 451 betreffen, die Vermutung schöpfen können, daß die Erklärung zuvor geschrieben worden ist. In welche Zeit aber haben wir Nr. 3 (am Ende) die Erinnerung an die Unzerstörbarkeit und Unauflösbarkeit der Verbindung der beiden Naturen in Christus zu denken? Sie ist gegen die nestorianische Irrlehre gerichtet und somit hinter 431 zu setzen, sie könnte aber auch im Geiste des Monophysitismus gemeint sein, und fiele dann in die nachchalzedonianische und selbst nachwardanische Zeit der armenischen Kirchengeschichte. Eine Entscheidung für diese spätere Zeit würde man aber jedenfalls nicht auf den Appell in Nr. 4 gründen können, welcher mahnt, sich am Beispiel der Märtyrer zu ermutigen. Damit kann schon auf das Martyrium der heiligen Rhipsime, des Erleuchters, und noch früher auf das Martyrium in der apostolischen Zeit und unter Sanatruk verwiesen sein (vgl. hierüber S. Weber, die katholische Kirche in Armenien, Freiburg 1903 S. 64, 69 ff.) Ein anderes Kriterium bietet uns Nr. 3 der Erklärung, und dieses weist offenbar in die ältere Zeit vor dem wardanischen Krieg. An dieser Stelle wird mit großer Verachtung des heidnischen Götzendienstes gedacht. Dabei bekommt man den Eindruck, daß der Verfasser seine Leser als solche betrachte, denen der Götzendienst eine aus eigener Anschauung irgendwie bekannte Verirrung ist. Wie dem sei, jedenfalls ist es auffällig, daß der Verfasser nur auf den Götzendienst abhebt, wie ihn das armenische Heidentum und die griechische und syrische Welt übte, aber gar nicht auf den Feuerdienst der Perser, der seit 451 in Armenien dem Volke aufgezwungen werden sollte. Das Letztere wäre nicht unterlassen worden, mochte Elische oder ein anderer die Erklärung verfaßt haben, wenn sie nach der Zeit des wardanischen Krieges S. 275 und während der Zeit der Verfolgung verfaßt worden wäre. Sie dürfte also vor diese Zeit zu setzen und ein Erstlingsprodukt wie des Verfassers, so auch der armenischen Literatur sein und dem jungen Elische mit Grund zugeeignet werden.
Sprachlich wird diese Annahme unterstützt durch den ermutigenden Zuruf: Glaube nur, liebe, hoffe, Nr. 4, dem ein ähnlicher in der Rede für die Mönche zur Seite steht, Nr. 5. In beiden Schriften wird das Bild von der Türe angewendet, hier, Nr. 3, zur Versinnlichung des Gebetes, dort, Nr. 4, wird die fürbittende Wirkung der Verdienste der Einsiedler, welche das Gebet der Welt gottgefällig macht, durch dieses Bild veranschaulicht. Auch die aszetischen Mahnungen an die Christen im allgemeinen haben dort ihr Widerspiel.
Was der Erklärung des Vaterunsers, die hier vorliegt, ihre Bedeutung gibt, ist nicht etwa die exegetische Genauigkeit. Die Erklärung ist wesentlich paränetisch und zu diesem Zwecke eklektisch. Dennoch muß man ihr nachrühmen, daß es ihr nicht an feinsinnigen und überraschenden Gedanken und eindrucksvollen Erinnerungen fehlt. Besonders sticht hervor die Auslegung der Bitte um das Brot, welche die Worte Jesu allein vom himmlischen Brot verstehen möchte. Damit verknüpft ist eine entschiedene Aussprache des Glaubens an die Gegenwart Christi im Sakrament. Bei unverkennbarer geistiger Auffassung der christlichen Religion spricht sich der Glaube an die Pflicht zur christlichen Werktätigkeit und Liebestätigkeit entschieden aus. Das religiöse Leben auf der Welt erscheint gehoben und gefestigt durch die Gemeinschaft mit den Engeln und Heiligen. Die Anschauung an der sittlichen Lebenshaltung des Christen auf Erden ist edel und vornehm, aber auch praktisch und innig fromm.
Durch die ganze Erörterung weht ein echt katholischer Geist, echt katholischer Glaube.