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Wir reden zwar nun von einem „Zorne Gottes“, denken aber dabei nicht an eine „Leidenschaft“, die sich an ihm finde, sondern bezeichnen damit nur ein strengeres Zuchtmittel, das zur Erziehung bei denen angewandt wird, die sich vieler und schwerer Sünden schuldig gemacht haben. Denn dass der sogenannte „Zorn Gottes“ und sein „Grimm“zur Erziehung gehört, und dass die Schrift nur dies sagen will, erhellt aus den Worten im sechsten Psalm: „Herr, strafe mich nicht in deinem Grimm, und züchtige mich nicht in deinem Zorn!“1 . Und bei Jeremia heißt es: „Züchtige uns, o Herr, aber nach Urteil und nicht im Grimme, damit du uns nicht etwa aufreibst!“2 . Und wenn jemand im zweiten Buche der Königreiche liest: „der Zorn Gottes habe den David angetrieben, eine Volkszählung anzuordnen“3 , und wenn im ersten Buche der Chronik „der Teufel“ als Veranlasser bezeichnet wird4 , so darf er nur diese zwei Stellen mit einander vergleichen, um zu sehen, in welchem Sinne dieser „Zorn“ zu verstehen ist. Alle Menschen sind „Kinder dieses Zornes“ geworden, wie Paulus lehrt, wenn er sagt: „Wir waren von Natur Kinder des Zornes, wie auch die übrigen“5 . Dass aber „der Zorn“ keine „Leidenschaft Gottes“ ist, sondern dass jeder sich diesen durch seine Sünden zuzieht, das will Paulus an dieser Stelle klar machen: „Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, seiner Geduld und seiner Langmut, und weißt nicht, dass die Güte Gottes dich zur Buße leitet? Aber mit deinem Starrsinn und der Unbußfertigkeit deines Herzens S. 393 häufest du dir Zorn auf am Tage des Zornes und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes“6 . Wie könnte sich nun jeder „Zorn aufhäufen am Tage des Zornes“, wenn bei „Zorn“ an eine „Leidenschaft“7 zu denken wäre? Und wie könnte „die Leidenschaft des Zornes“ ein Erziehungsmittel sein? Und wenn die Schrift uns mahnt, überhaupt nicht zu zürnen, und im sechsunddreißigsten Psalm befiehlt: „Steh ab vom Zorne und laß den Grimm“8 , und durch den Mund des Paulus spricht: „Leget auch ihr das alles ab: Zorn, Heftigkeit, Bosheit, Lästerung, Schandrede“9 , so könnte sie doch wohl nicht Gott selbst „die Leidenschaft zuschreiben“, von der sie uns ganz frei machen will. Dass man die Worte der Schrift vom „Zorne Gottes“ bildlich zu verstehen hat, ergibt sich ferner daraus, dass auch vom Schlafe Gottes berichtet wird, aus dem ihn gleichsam der Prophet aufwecken will, wenn er sagt;
„Stehe auf, warum schläfst du, o Herr?“10 und ergibt sich auch aus jener Stelle, wo es heißt; „Da erwachte wie ein Schlafender der Herr, wie ein Held, der trunken ist vom Weine“11 . Wenn also das Wort „Schlaf“ etwas anderes bezeichnet und nicht das, was es sonst nach der gewöhnlichen Auffassung bedeutet, warum soll dann der Ausdruck „Zorn“ nicht in ähnlicher Weise zu verstehen sein? Die „Drohungen“ ferner sind einfache Ankündigungen der Strafen, die über die Bösen kommen werden; gerade so könnte man auch die Worte des Arztes „Drohungen“ nennen, wenn er zu seinem Kranken spricht: Ich werde dich schneiden und Brenneisen bei dir anwenden müssen, wenn du meinen Anordnungen keine Folge leistest und dich nicht im Essen und Trinken in acht nimmst und dich nicht so und so verhältst. Nicht „menschliche Leidenschaften“ also „schreiben wir Gott zu“, auch „hegen wir“ nicht „gottlose Meinungen über ihn“ auch S. 394 „gehen wir“ nicht „in die Irre“, wenn wir die Gott betreffenden „Erklärungen“ von den Schriften selbst entnehmen und miteinander vergleichend „darbieten“. Und die Männer, die bei uns das Lehramt weise verwalten, haben nichts anderes im Auge, als ihre Zuhörer nach Möglichkeit von der Unbildung zu befreien und verständig zu machen.
