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Wenn wir aber den Bekehrten die Sünden ihres früheren Lebens vorwerfen wollten, so müßten wir auch gegen Phädon, obwohl er sich der Philosophie zugewandt hatte, Klage erheben. Denn Sokrates nahm ihn, wie die Geschichte berichtet, aus einem schlechten Hause heraus und führte ihn dem Studium der Philosophie S. 90 zu.[^245] Auch die Ausschweifungen des Polemon1, des Nachfolgers des Xenokrates, werden wir dann der Philosophie zur Last legen dürfen, während wir doch gerade dies an ihr billigen müssen, dass ihre Lehre im Mund ihrer Anhänger die Kraft besaß, Männer, die vorher in so großen Sünden befangen waren, davon zu befreien. Bei den Griechen nun finden wir nur einen Phädon, ich wenigstens weiß von keinem zweiten, und einen Polemon, die ein unsittliches und lasterhaftes Leben aufgaben und sich dem Studium der Philosophie zuwandten; bei Jesus aber sind es nicht nur die Zwölf in jenen Tagen, sondern auch zu allen Zeiten Unzählige, die zu einem Chor von Weisen geworden von ihrem früheren Leben sagen können; „Denn auch wir waren einst unverständig, ungehorsam, irrend, Sklaven von mancherlei Begierden und Lüsten, lebten in Bosheit und Neid, waren hassenswert und haßten einander. Als aber die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Heilandes, erschien“, da sind wir „durch ein Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des Geistes, den er2 auf uns ausgegossen hat“3, das geworden, was wir jetzt sind.
Denn Gott „sandte sein Wort aus“, wie der Prophet in den Psalmen lehrt, „und heilte sie und errettete sie aus ihrem Verderben“4. Dem Gesagten5 möchte ich noch beifügen, dass Chrysippos in seinem Buche Von der Heilung der Leidenschaften den Versuch macht, den menschlichen Leidenschaften Einhalt zu tun und die Opfer derselben nach den Grundsätzen der verschiedenen philosophischen Schulen zu heilen, ohne selbst zu erklären, welches denn die wahre Lehre sei. Er sagt: „Ist die Lust das höchste Gut, so sind die Leidenschaften S. 91 auf solche Art zu heilen. Gibt es aber drei Arten von Gütern, dann hat man eben auf diese Lehre Rücksicht zu nehmen und nach ihr die Menschen von den Leidenschaften zu befreien, von denen sie beherrscht werden.“6 Die Ankläger des Christentums aber wollen nicht sehen, in wie vielen durch die Wirksamkeit seiner Lehre die Leidenschaften beruhigt werden, in wie vielen die Flut der Sünde niedergehalten, in wie vielen die sittliche Roheit bezähmt wird; jene Leute, die auf ihr Gemeinschaftsgefühl stolz sind,7 sollten unserem Glauben Dank wissen, dass er auf eine neue Art die Menschen von vielen Übeln befreit hat, und ihm zum wenigsten bezeugen, dass er, wenn auch nicht wahr, so doch jedenfalls dem Menschengeschlechte nützlich sei.
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