II
Es wäre wohl an der Zeit, an das Gebet selbst heranzutreten; doch wollen wir zu unserer Rede noch einen kleinen Zusatz darüber beifügen, daß wir, während uns S. 93 von der göttlichen Vorsehung viele und mannigfaltige Güter zuteil wurden, nur dieses eine als Gegengabe für das Empfangene zur Verfügung haben: die Möglichkeit, unserem Wohltäter durch Gebet und Danksagung zu vergelten. Ich halte nun dafür: auch wenn wir während unseres ganzen Lebens den Verkehr mit Gott fortsetzen, indem wir danken und beten, so bleiben wir hinter der durch die empfangenen Gaben uns auferlegten Verpflichtung so weit zurück, als wenn wir von Anfang an uns kaum vorgenommen hätten, dem Wohltäter zu danken. Die Dimension der Zeit pflegt man in drei Abschnitte einzuteilen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und über diese drei Teile erstrecken sich die Wohltaten, die der Herr uns erweist. In bezug auf die Gegenwart gilt, daß du sie durch ihn erlebst; hinsichtlich der Zukunft gibt er dir sichere Gewähr für all das, was du erwartest und wünschest; und was die Vergangenheit betrifft, so wärest du nicht in ihr gewesen, wenn er dich nicht erschaffen und erhalten hätte. Ja, reine Wohltat war es, daß du von ihm das Dasein empfangen hast, und abermals reine Wohltat war es, daß du, nachdem du geworden, „in ihm lebest und dich bewegest,“ wie der Apostel sagt (Apg. 17, 28); und die Hoffnungen, die du für die Zukunft hegst, hängen von der nämlichen Macht ab. Nur die Gegenwart steht dir einigermaßen zur freien Verfügung. Darum kannst du, wenn du nicht aufhörest, Gott zu danken, kaum für die Gegenwart deinen Dank voll erstatten; für die Zukunft und Vergangenheit wirst du überhaupt keinen Weg ausfindig machen, um eine Art Wiedervergeltung für alles zu leisten, was du empfangen. Doch obgleich wir weit entfernt sind, den gebührenden Dank abzustatten, wollen wir uns nicht einmal nach unseren Kräften dankbar erweisen, da wir ― ich sage nicht, den ganzen Tag, nein, ― nicht einmal einen kleinen Teil des Tages auf den Umgang mit Gott verwenden.
Wer hat mir die Erde unter die Füße gebreitet? Wer hat das nasse Element so geschaffen, daß es der erfinderische Menschengeist schiffbar machen konnte? Wer hat mir den Himmel gefestigt wie ein Gewölbe? Wer trägt mir die Fackel der Sonne voraus? Wer entsendet die Quellen in den Schluchten? Wer hat den S. 94 Flüssen ihre Rinnsale bereitet? Wer hat mir zur Hilfe die unvernünftigen Tiere unterworfen? Wer hat mich, als ich seelenloser Staub war, gerufen zur Teilnahme an Leben und Vernunft? Wer hat jenen Lehm nach dem Gleichnis des göttlichen Vorbildes gestaltet? Wer hat das in mir durch die Sünde entstellte göttliche Ebenbild wieder zur ursprünglichen Schönheit zurückgeführt? Wer zieht mich, nachdem ich aus dem Paradiese ausgeschlossen, vom Baum des Lebens weggetrieben und in den Abgrund der Sinnlichkeit geworfen bin, wieder zu jener Glückseligkeit empor, die zuerst uns geworden war? „Keiner ist, der es erfaßte“, ― sagt die Schrift (Röm. 3, 11). Denn wenn wir darauf unseren Blick richten würden, so würden wir gewiß in keinem Augenblick unseres Lebens aufhören, Gebete des Dankes zu verrichten. So aber sind fast alle Menschen nur auf das Sinnliche und Irdische aufmerksam und bedacht: auf dieses richtet sich ihr Eifer, um dieses dreht sich ihr Verlangen; an dieses hängen sie ihre Erinnerung und ihre Hoffnung. Vor lauter Gier nach mehr sind die Menschen schlaf- und ruhelos in bezug auf all das, was nur immer ein Mehr zuläßt: in bezug auf Ehre und Ruhm, in bezug auf Reichtum an Hab und Gut, in bezug auf die Befriedigung krankhaften Zornes. In all diesen Dingen trachten die Menschen auf jede mögliche Weise nach mehr; dagegen den wahren Gütern Gottes wenden sie keinen Gedanken zu, weder denen, die bereits vorhanden sind, noch jenen, die uns in Aussicht gestellt wurden.
