IV
Doch Spitzfindige bringen schnell einen Einwand auf derartige Mahnungen vor. Zur Rechtfertigung ihrer Rachsucht führen sie Prophetenstimmen an: den David, der den Untergang der Sünder wünscht und Schmach und Schande auf seine Feinde herabfleht (Ps. 9, 4 [hebr. Ps. 9, 4]), den Jeremias, der die Vergeltung Gottes an seinen Feinden zu sehen begehrt (Jer. 16, 25), den Oseas, welcher betet, seinen Feinden mögen unfruchtbarer Mutterleib und trockene Mutterbrüste beschert werden (Os. 9, 14). Und manches andere dergleichen, das in den hl. Schriften S. 98 da und dort vorkommt, führen sie zum Beweise dafür an, daß sie ihre Feinde verwünschen und die göttliche Güte zur Mithelferin ihrer Hartherzigkeit machen dürften. Um dem Schwatzen solcher, welche, auf derartigen Einwendungen fußend, zu einer von der unserigen abweichenden Meinung kommen, ein für allemal ein Ende zu machen, so wollen wir zu jeder der angezogenen Stellen, wenn auch nur wie im Vorbeigehen, eine Bemerkung machen. Von keinem der wahrhaft Heiligen, die vom Heiligen Geiste erfüllt waren und deren Worte auf göttliche Anregung hin zur Beherzigung für die Nachwelt aufgeschrieben sind, wird sich nachweisen lassen, er habe etwas Böses erfleht; vielmehr haben sie bei allen ihren Gebeten nichts anderes im Auge als die Besserung des Sündhaften, das sich unter den Menschen findet. Wenn jemand betet, es möge keine Kranken, keine Bettler geben, so wünscht er gewiß nicht den Untergang der Menschen, sondern das Verschwinden von Krankheit und Armut; und so vermag jeder der Heiligen wegen seines Gebetes, es möge alles, was unserem Geschlechte verderblich und böse ist, verschwinden, nur ganz Unverständige zu der Meinung verführen, er wäre gegen die Menschen selbst erzürnt und erbittert.
Denn wenn der Psalmist ausruft: „Verschwinden mögen die Sünder und Ungerechten von der Erde, damit sie nicht mehr sind!“ (Ps. 9, 18 [hebr. Ps. 9, 18]), so betet er, daß die Sünde und die Ungerechtigkeit aufhören möchten. Der Mensch ist ja nicht als solcher der Feind seiner Mitmenschen, sondern die Richtung seines Willens zum Bösen hin läßt den natürlichen Träger dieses verkehrten Willens in der Rolle eines Feindes erscheinen. Also betet David, das Böse möge aufhören; der Mensch als solcher ist aber nichts Böses. Wie wäre das Ebenbild des unendlich Guten an sich etwas Böses? Ebenso will dich David, so oft er Schmach und Schande auf seine Feinde herabfleht, hinweisen auf die Menge jener Widersacher, die auf seiten des unsichtbaren Feindes immer wieder Krieg in das Leben der Menschen tragen. Diese hat noch offensichtlicher Paulus im Auge, wenn er sich dahin äußert, daß „wir zu kämpfen hätten gegen Fürsten und Mächtige, gegen die Beherrscher dieser Welt, gegen die S. 99 Geister der Bosheit unter dem Himmel“ (Eph. 6, 12). Die Nachstellungen der Dämonen, durch welche sie den Zunder des Bösen in die Menschheit werfen, bald gereizte Begegnungen, bald Anlässe zu Begierden des Neides, der Überhebung, des Hasses und andere Sündenwurzel ― all diese Angriffe sieht der große Prophet, wenn er sein Gebet gegen seine Widersacher verrichtet, auf die Seele eines jeden einstürmen und betet deshalb, sie möchten zuschanden werden. Die Beschämung seiner Feinde ist aber gleichbedeutend mit der Rettung seiner selbst. Naturgemäß kommt es dem im Ringkampf Besiegten zu, sich über seine Niederlage zu schämen, wie dem Sieger, sich über den Sieg zu freuen. Daß dem so ist, erhellt auch aus der Form des Gebetes, das da lautet: „Beschämt sollen werden und in Verwirrung geraten, die meiner Seele nachstellen“ (Ps. 6, 11 [hebr. Ps. 6, 11]). Der Psalmist verwünscht demnach nicht solche, welche ihm Schaden an Geld zufügen wollen, auch nicht solche, welche der Feldgrenzen wegen Prozesse gegen ihn anstrengen, oder die ihm eine körperliche Schädigung anzutun beabsichtigen, sondern diejenigen, welche seiner Seele nachstellen. Was ist aber die Nachstellung der Seele anders als der Versuch, eine Gottentfremdung herbeizuführen? Gott wird aber die Seele dadurch entfremdet, daß sie sich an eine Leidenschaft hingibt. Da nun Gott frei von Leidenschaftlichkeit ist, so löst der Leidenschaftliche die Verbindung mit Gott auf. Um solches Unheil von sich abzuwenden, betet der Psalmist um die Beschämung seiner Widersacher und damit für sich um den Sieg über seine Feinde; die Feinde aber sind die Leidenschaften.
Ebenso muß das Gebet des Jeremias aufgefaßt werden. Während nämlich der König und seine von der gleichen Anschauung erfüllten Untertanen wahnwitzigem Götzendienst huldigten, will Jeremias, von Eifer für die Verehrung des wahren Gottes beseelt, nicht irgendein persönliches Mißgeschick durch sein Gebet abwenden, sondern bringt sein Anliegen für die Gesamtheit der Menschen vor, indem er bittet, durch das Einschreiten Gottes gegen die gottlos Gewordenen möge das ganze Menschengeschlecht zur Besinnung gebracht werden. Das nämliche gilt vom Propheten Oseas. Weil er sah, wie S. 100 äußerst fruchtbar die Bosheit unter den Israeliten sich erwiesen hatte, so wünschte er mit Recht die Strafe der Unfruchtbarkeit über sie herab, von der Absicht geleitet, daß die unheilvollen Brüste der Sünde vertrocknen sollten, damit das Böse unter den Menschen weder geboren noch genährt werde. In diesem Sinne betet der Prophet: „Gib ihnen, o Herr, einen unfruchtbaren Leib und trockene Brüste“ (Osee 9, 14).
Und wenn sonst ein derartiges Wort in den hl. Schriften sich findet, das irgendwie Rachsucht zu bezeichnen scheint, so hat es ganz bestimmt nur die Bedeutung, daß es lediglich das Böse ausrotten, nicht aber den Menschen verderben will. „Gott hat den Tod nicht gemacht“ (Weish. 1, 13). Hörst du das Wort? Wie hätten da die Propheten Gott zur Tötung ihrer persönlichen Feinde auffordern dürfen, ihn, dem das Wesen und Wirken des Todes fremd ist? Gott freut sich nicht an dem Verderben Lebendiger! Nur ein Schwätzer, der gegen seine Feinde die Menschenliebe Gottes aufreizen möchte, wagt es, ihn aufzufordern, sich über die Heimsuchungen der Menschen zu freuen.
