35. Paulus hat nothwendig sich selbst als Muster der Enthaltsamkeit aufgestellt.
Warum gedenkt aber Paulus hier seiner selbst, indem er sagt: „Ich wünsche, daß alle Menschen so seien, wie ich?“ Hätte er das nicht beigesetzt, so wäre er der Ruhmredigkeit ausgewichen. Warum setzte er aber hinzu: „Wie ich bin.“ Nicht um sich zu erheben. Denn er ist ja derselbe, welcher, obgleich er die Apostel an Anstrengungen im Predigtamt übertraf, sich doch sogar des Namens eines Apostels für unwürdig hält. Denn nachdem er gesagt: „Ich bin der Geringste der Apostel,“1 verbessert er sich, als hätte er etwas Größeres, als er verdiente, gesprochen, sogleich mit den Worten: „Der ich nicht werth bin, ein Apostel zu heissen.“ Warum macht er hier zur Ermahnung den Zusatz? Nicht ohne Grund und aus Zufall; sondern weil er wußte, daß die Schüler zum Eifer für’s Gute dadurch am meisten angespornt werden, wenn sie die Beispiele der Lehrer vor sich haben. Gleichwie also jener, der ohne Werke mit bloßen Worten philosophirt, dem Zuhörer nicht sonderlich nützt, so treibt der, welcher einen Rath als von sich zuerst vollzogen aufzeigen kann, den Zuhörer dadurch am meisten an. Ueberdieß zeigt er sich selbst rein sowohl von Neid, als von Prahlerei; denn er wünscht ja, daß er dieses vortreffliche Gut mit den Schülern gemeinschaftlich habe, und will in Nichts mehr sein, als sie, sondern in Allem dieselben sich gleich machen. Ich habe auch noch einen dritten Grund anzuführen. Was denn für einen ? Die Sache schien schwer und nicht nach dem Wohlgefallen der Menge zu sein. Indem er sie nun als leicht darstellen wollte, stellt er den, welcher dieses Werk vollbracht, in die Mitte, damit sie nicht glauben, es sei sehr schwer, sondern daß sie, auf den Führer sehend und dadurch ermuthigt, den nämlichen Weg beträten. S. 206 Dasselbe thut er auch anderwärts. Denn als er die Galater anredete und sich bemühte, ihnen die Furcht vor dem Gesetz zu benehmen, wodurch sie zur alten Gewohnheit hingerissen wurden, indem sie vieles dahin Gehörige beobachteten, was sagt er? „Seid wie ich; denn auch ich bin wie ihr.“2 Was er aber sagt, ist dieses: Ihr könnet nicht sagen: Als Einer, der Ehen von den Heiden kommt und der aus der Gesetzesübertretung fließenden Furcht unkundig ist, philosophierst du uns gegenüber über dieß Alles ohne Gefahr. Denn auch ich, spricht er, habe das nämliche Joch, wie ihr, einst getragen; war den Befehlen des Gesetzes unterworfen, habe die ceremoniellen Vorschriften beobachtet; nachdem aber die Gnade erschienen, habe ich mich ganz von jenem zu dieser gewendet. Dieses ist aber keine Uebertretung mehr, da wir einem andern Manne Unterthan sind. Daher hat Niemand Grund zu behaupten, daß ich Anderes thue und zu Anderem mahne, oder ich euch, nachdem ich für mich Sicherheit gefunden, in Gefahr gestürzt habe. Denn handelte es sich um eine Gefahr, so hätte ich mich selber nicht überliefert, noch mein eigenes Heil vernachlässigt. Wie also Paulus dort, indem er sich selbst als Beispiel aufstellt, die Furcht zerstreut, so befreit er auch hier dadurch, daß er sich in die Mitte stellt, von der Besorgnis.
