36. Der Apostel nennt die Jungfrauschaft eine Gnadengabe.
„Aber ein Jeder“, sagt er, „hat seine eigene Gabe, der Eine so, der Andere aber so.“1 Erblicke darin den nirgends verleugneten, sondern überall klar hervortretenden Charakter der apostolischen Demuth! Eine Gabe Gottes nennt er seine Tugend und schreibt das, worauf er so viele Mühe verwendet, ganz dem Herrn zu. Und was Wunder, wenn er das bei der Enthaltsamkeit thut, da er auch dort, wo er von der Predigt redet, für welche er zahllose Arbeiten, be- S. 207 ständige Trübsale, unsägliche Qualen und täglichen Tod übernommen, sich derselben Redeweise bedient? Was sagt er also darüber? „Ich habe mehr, als Alle gearbeitet; doch nicht ich, sondern die Gnade Gottes mit mir.“2 Er schreibt also nicht einen Theil sich, den andern Gott, sondern das Ganze Gott zu. Das ist ein Zeichen eines dankbaren Knechtes, nichts für sein Eigenthum, sondern Alles für ein Eigenthum des Herrn zu halten, nichts sich, sondern Alles dem Herrn gehörig zu betrachten. Dasselbe thut er auch anderwärts. Denn nachdem er gesagt: „Wir haben gemäß der Gnade, die uns gegeben worden ist, verschiedene Gaben,“3 zählt er im Verlauf der Rede als solche die Vorsteherschaft, die Freigebigkeit und das Almosen auf; und doch ist Jedem bekannt, daß dieß Tugenden sind und keine Gaben. Dieses sagte ich aber darum, damit du, wenn du ihn sagen hörest: „Ein Jeder hat seine eigene Gabe,“ nicht kleinmüthig wirst und zu dir selber sprichst: „Die Sache bedarf meinerseits keiner Anstrengung, da Paulus sie eine Gabe nennt.“ Denn er spricht aus Bescheidenheit so, nicht weil er die Enthaltsamkeit in die Reihe der Gaben zu setzen gedachte. Dadurch geräth er weder mit sich selbst, noch mit Christus in Widerspruch; nicht mit Christus, welcher sagt: „Es gibt Verschnittene, welche sich selbst um des Himmelreichs willen verschnitten haben“4 und hinzu setzt: „Wer es fassen kann, der fasse es;“ nicht mit sich selbst, da er diejenigen, welche den Wittwenstand wählten, aber in diesem Vorhaben nicht ausharren wollen, verdammt. Denn ist’s eine Gabe, warum drohst du jenen mit den Worten: „Sie ziehen sich die Verdammniß zu, weil sie das erste Versprechen gebrochen haben?“5 Denn nirgends bestrafte Christus diejenigen, welche keine Gabe empfingen, sondern überall nur jene, welche kein gutes Leben führen. Was er hauptsächlich verlangt, ist ein sehr gutes Leben und untadelige Werke. Die Vertheilung der Gaben liegt aber nicht in der Wahl des S. 208 Empfängers, sondern in der Willkür des Gebers. Deßhalb lobt auch Christus keineswegs jene, welche Wunder verrichten, sondern er hält sogar seine Schüler, die sich derselben rühmten,6 von dieser Freude zurück, indem er sagt: „Freuet euch nicht, daß euch die Teufel unterworfen sind;“ denn die selig gepriesen werden,7 sind überall die Barmherzigen, die Demüthigen, die Sanftmüthigen, die reinen Herzens sind, die Friedfertigen und Alle, die das und Aehnliches thun. Ja Paulus selbst gedenket auch da, wo er seine Großthaten aufzählt, unter ihnen auch der Enthaltsamkeit; denn nachdem er gesagt: „Durch große Geduld in Trübsalen, in Nöthen, in Aengsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufständen, in Mühen, in Nachtwachen und Fasten,“ fügt er hinzu: „Durch Keuschheit,“8 was er nicht gethan haben würde, wenn sie eine Gabe wäre. Warum aber tadelt er auch jene, welche sie nicht besitzen, indem er sie Unenthaltsame nennt? Warum thut denn der besser, welcher seine Jungfrau nicht verheirathet? Warum ist die Wittwe seliger, wenn sie so bleibt? Weil es, wie ich schon gesagt habe, Seligkeiten sind, die nicht von Wundern, sondern von Handlungen herrühren, wie auch die Strafen. Wie beharret er bei der Ermahnung zu diesen Dingen, wenn sie nicht bei uns stehen und nach der göttlichen Gnade nicht auch unsere Mitwirkung fordern? Denn dem Ausspruch: „Ich wünsche, daß alle Menschen so seien, wie ich, enthaltsam,“9 fügt er wieder hinzu: „Ich sage aber den Unverheiratheten und den Wittwen, es ist ihnen gut, wenn sie so bleiben, wie auch ich,“ wobei er sich wieder aus dem nämlichen Grund als Beispiel hinstellt. Denn wenn sie ein so nahes und häusliches Vorbild hätten, würden sie auch letchter die Mühen des jungfräuliches Standes auf sich nehmen. Wenn er also theils oben mit den Worten: „Ich wünsche, daß Alle so seien, wie ich bin,“ theils hier, wo er sagt: „Es ist gut, wenn sie so bleiben, wie ich,“ S. 209 nirgends einen Grund beifügt, so wundere dich darüber nicht; denn er thut das nicht aus Anmaßung, sondern weil er glaubte, daß seine Ansicht, von der geleitet er das Werk vollbracht hatte, ein genügender Grund sei.
