2.
Da der Herr sagt: „Wer seinen Bruder einen Narren schilt, ist der Hölle verfallen“, dachte er auch nicht bloß an diesen Ausdruck, sondern an jede Art von Beleidigung. Ebenso bestimmt er hier nicht, dass wir bloß Faustschläge mannhaft ertragen, sondern dass wir uns überhaupt durch kein Unrecht aus der Fassung bringen lassen sollen. Darum wählte er auch dort gerade die schwerste Beschimpfung1 , hier einen Schlag, der unter allen als der beschämendste und entehrendste gilt, den ins Gesicht. Seine Weisung bezieht sich aber sowohl auf den, der schlägt, als auch auf den, der geschlagen wird. Der Misshandelte, der eine solche Höhe der Tugend erreicht hat, wird gar nicht denken, dass ihm ein Unrecht widerfahren. Er wird ja schon gar nicht das Gefühl einer Beschimpfung empfinden, da er eigentlich viel eher kämpft, als geschlagen wird. Der Angreifer hingegen wird beschämt werden und keinen S. 326 zweiten Schlag mehr führen, und wäre er auch schlimmer als das wildeste Tier. Ja, er wird sogar seinen ersten Schlag selbst gar sehr missbilligen. Nichts hält ja die Bösen so sehr zurück, als wenn man das geschehene Unrecht sanftmütig erträgt; und zwar hält es sie nicht bloß von weiterer Gewalttätigkeit zurück, sondern es bewirkt auch, dass sie das Frühere eher bereuen, die Sanftmut des Beleidigten bewundern und2 abstehen. Ja, es macht sie aus Feinden und Gegnern nicht bloß zu Freunden, sondern zu Hausgenossen und gegenseitigen Dienern. Übt man dagegen Widervergeltung, so erreicht man in allem das Gegenteil. Es bringt beiden Schaden, macht die schlechter, als sie waren, und entfacht die Zornesflamme nur um so mehr: Ja, wenn das Unheil noch weiter geht, hat es oft sogar den Tod im Gefolge. Aus diesem Grunde befahl der Herr, nicht bloß keinen Zorn aufkommen zu lassen, wenn jemand dich schlägt, du sollst sogar dieses Verlangen3 befriedigen, damit es nicht den Anschein habe, als hättest du den ersten Schlag nur wider Willen ertragen. Auf diese Weise kannst du auch dem Beleidiger einen viel passenderen Schlag versetzen, als wenn du ihn mit der Hand schlügest, und dazu wirst du aus einem gewalttätigen Menschen ein sanftmütiges Lamm machen.
„Will dich jemand vor Gericht ziehen und dir dein Gewand nehmen, so gib ihm auch noch deinen Mantel.“ Christus will eben, dass wir diese Geduld im Ertragen von Unbilden nicht bloß bei Misshandlungen zeigen, sondern auch dann, wenn es sich um unser Eigentum handelt. Deshalb bringt er auch hier wieder einen sehr starken Fall als Beispiel. Wie er uns dort durch geduldiges Leiden zu siegen befahl, so hier, indem wir dem Räuber noch mehr geben sollen, als er wollte. Doch hat er dies nicht so ohne weiteres befohlen, sondern mit einem Zusatz. So sagt er nicht einfach: Gib deinen Mantel dem, der darum bittet, sondern: „dem, der mit dir einen Prozeß führen will“, d.h. der dich vor Gericht ziehen und dort keine Sache anheischig machen will. S. 327 Nachdem er oben gesagt hatte, man soll niemand einen Narren schelten und nicht grundlos zürnen, verlangt er im weiteren noch mehr, indem er befahl, auch die rechte Wange hinzuhalten. In gleicher Weise verschärft er hier sein Gebot, nachdem er vorher nur verlangt hatte, man solle Wohlwollen gegen seinen Widersacher hegen. Er befiehlt nämlich hier, nicht bloß freiwillig zu geben, was ein anderer nehmen will, sondern noch weitgehendere Großmut zu zeigen. Wie aber, fragst du da, soll ich selber also nackt umhergehen? Wir brauchten niemals nackt zu sein, wenn wir dieses Gebot aufs Wort befolgen. Im Gegenteil, wir wären dann besser gekleidet, als irgend jemand. Fürs erste möchte wohl niemand einem Gewalt antun, der solche Gesinnungen hegte; zweitens, selbst wenn einer so roh und unmenschlich wäre, es fände sich doch noch eine viel größere Anzahl solcher, die einen so hochgesinnten Mann nicht bloß mit Gewändern, sondern, wenn es möglich wäre, selbst mit ihrem eigenen Fleische bekleideten.