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Was hat aber dies mit der eigentlichen Frage zu tun, sagst du? David hat doch wenigstens den Sabbat nicht übertreten. Dafür tat er noch mehr, und gerade das bekundet am meisten die Weisheit Christi, dass er den Umstand des Sabbats unbeachtet ließ und ein anderes Beispiel brachte, das noch mehr bedeutete als der Sabbat. War es doch keineswegs das gleiche, den Sabbat zu übertreten und jenen heiligen Tisch zu berühren, den niemand berühren durfte. Der Sabbat ward ja oft übertreten, ja er wurde immer übertreten durch die Beschneidung und durch viele andere Handlungen1 . Auch in Jericho können wir dasselbe beobachten. Doch geschah dies nur damals. Der Sieg bleibt also auf Seite des größeren Beispiels. Weshalb hat also dem David niemand einen Vorwurf gemacht, obgleich noch ein stärkerer Grund dazu in dem anderen Umstand lag, dass er so zum Anlass für die Ermordung der Priester wurde? Doch erwähnt der Herr dies nicht. Er hält sich nur an das Vorliegende. Sodann gibt er auch auf andere Weise darauf Antwort. Zuerst hat er das Beispiel Davids angeführt, um durch die hohe Stellung der Person die Anmaßung der Juden zu dämpfen. Nachdem er sie aber einmal zum Schweigen gebracht und ihre Großtuerei zuschanden gemacht hatte, da erst gibt er noch eine Antwort, die mehr ausschlaggebend war. Und wie lautet sie?
V.5: „Wißt ihr nicht, dass im Heiligtum die Priester den Sabbat entweihen und doch sind sie ohne Schuld?“
Dort, will er sagen, findet sich die Erklärung in dem besonderen Umstand; hier erklärt sich die Sache ohne S. d570 diesen. Doch gibt er diese Lösung der Frage nicht sofort; vielmehr bringt er zuerst eine Entschuldigung und dann erst geht er zum Angriff über. Das stärkere Argument muss er nämlich später bringen, obwohl auch das erste seine eigene Beweiskraft besitzt. Da sagt mir nur nicht, es heiße jemanden eigentlich nicht von Schuld freisprechen, wenn man bloß das Beispiel eines anderen vorbringt, der dieselbe Sünde begangen hat. Denn wenn der Täter nicht angeklagt wird, so erlangt seine Tat die Bedeutung einer Entschuldigung. Doch begnügt sich der Herr nicht damit; er bringt ein noch beweiskräftigeres Argument, indem er sagt, das Vorkommnis sei überhaupt keine Sünde. Darin liegt ja sein siegreichstes Argument, dass er zeigt, dass das Gesetz sich selbst aufhebt, dass es dies zweimal tat, hinsichtlich des Ortes und in Anbetracht des Sabbats; ja eigentlich dreimal, denn das Geschehnis hatte zwei Gesichtspunkte und dazu noch einen dritten: dass es nämlich durch Priester geschah, ja, was noch mehr ist, dass es nicht einmal Tadel verdient. „Denn“, sagt der Herr, „sie sind ohne Schuld.“ Siehst du also, wie viele Punkte er aufzählt? Den Ort, denn er sagt: „im Heiligtum“; die Person, nämlich „die Priester“; die Zeit, nämlich den Sabbat; die Sache selbst, denn sie entweihen; er sagt nicht bloß: sie heben auf, sondern, was schwerer wiegend ist: „sie entweihen“. Ferner, dass sie nicht nur nicht bestraft werden, sondern auch von jeder Anschuldigung frei sind: „denn sie sind ohne Schuld“. Glaubet also nicht, will der Herr sagen, dass dies dem früheren ähnlich sei; denn was die Jünger taten, geschah nur einmal, und zwar nicht durch einen Priester und dazu lag noch ein Notfall vor. Deshalb verdienten sie auch Entschuldigung. Dies hingegen geschieht jeden Sabbat, und zwar durch Priester, und im Heiligtum, und entsprechend dem Gesetze. Deshalb sind sie auch nicht bloß aus Nachsicht, sondern auf Grund des Gesetzes von jeder Schuld frei; denn nicht um sie anzuklagen, habe ich so geredet, noch auch, um sie aus Nachsicht von der Schuld freizusprechen, sondern ganz nach dem Buchstaben des Rechtes. Während er also jene in Schutz zu nehmen scheint, verneint S. d571 er die Schuld dieser. Denn wenn er sagt: „Jene sind frei von Schuld“, dann noch um so mehr diese. Aber, wendest du ein, die Jünger sind keine Priester. Dafür sind sie noch mehr als Priester. Denn hier ist der Herr des Heiligtums selbst zugegen; die Erfüllung nicht bloß das Vorbild. Darum sagt er auch:
V.6: „Ich sage euch, hier ist einer, der über dem Tempel steht.“
Trotzdem sie aber einen solchen Ausspruch hörten, erwiderten sie doch nichts; denn jenen lag das Heil des Menschen nicht am Herzen. Da aber seine Worte den Zuhörern offenbar unangenehm waren, so ging der Herr sogleich über den Gegenstand hinweg und kam wieder auf die Nachsicht zu sprechen; und zwar sind seine Worte nicht ohne einen gewissen Tadel:
V.7: „Wenn ihr aber erkannt hättet, was es heißt: Ich will Barmherzigkeit und nicht Opfer2 , so würdet ihr nicht Schuldlose verurteilt haben.“
Siehst du, wie er hier wieder auf die Barmherzigkeit zu sprechen kommt und wie er von neuem bezeugt, die Jünger hätten in diesem Falle keine Nachsicht nötig? „Denn“, sagt er, „ihr würdet nicht Unschuldige verurteilt haben.“ Zuerst hat er sich auf das Beispiel der Priester berufen und gesagt: „Sie sind unschuldig“;hier aber spricht er aus sich selbst, oder vielmehr auch hier nach dem Gesetze; er zitiert ja einen Prophetenspruch.