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Wen meint er aber hier mit den „Auserwählten“? Gemeint sind die Gläubigen, die mitten unter den Juden geblieben waren. Damit nämlich die Juden nicht behaupten könnten, dieses Verderben sei wegen des Evangeliums und der Anbetung Christi über sie hereingebrochen, so zeigt Jesus, dass die Gläubigen keineswegs daran schuld sind, dass vielmehr alle Juden vollständig dem Untergange verfallen wären, wenn es keine Christen gegeben hätte. Hätte es nämlich Gott zugelassen, dass der Krieg sich in die Länge gezogen hätte, so wäre keine Spur von den Juden übrig geblieben. Um aber die gläubig gewordenen Juden nicht mit den ungläubigen umkommen zu lassen, setzte er rasch dem Kampfe ein Ziel und machte dem Kriege ein Ende. Deshalb sagt S. d1086 er: „Wegen der Auserwählten werden sie abgekürzt werden.“ Durch diese Worte wollte er denen, die mitten unter den Juden geblieben waren, Trost gewähren, dass sie aufatmen könnten und nicht zu fürchten brauchten, sie würden mit umkommen. Wenn für sie in diesem Falle so gütig gesorgt wird, dass ihretwegen auch andere gerettet werden und um der Christen willen sogar die ungläubigen Juden zum Teil erhalten blieben, welche Ehre wird ihnen dann zur Zeit des Lohnes zuteil werden? Zugleich bot er ihnen einen Trost in ihren eigenen Gefahren, sie sollten sich nicht betrüben, da ja auch die Juden von denselben Leiden betroffen würden und doch nichts davon hätten, sondern nur das Verderben auf ihr Haupt lüden.
Allein Christus wollte sie nicht nur trösten, sondern auch unmerklich und ohne Argwohn zu erwecken von den jüdischen Gebräuchen abbringen. Wenn nämlich keine Änderung mehr eintreten und kein Tempel mehr erstehen sollte, so hatte offenbar das Gesetz seine Geltung verloren. Unmittelbar lauteten seine Worte freilich nicht so, aber man konnte es aus dem völligen Untergange der Juden herauslesen. Er vermied es aber, offen davon zu sprechen, um ihnen nicht vor der Zeit wehe zu tun, weshalb er auch nicht von vornherein die Rede geradewegs darauf hinlenkte, sondern erst die Stadt beklagte, um die Jünger zu nötigen, dass sie unter Hinweis auf den Steinbau ihn fragten; so konnte er in der Form einer Antwort auf ihre Frage die ganze Zukunft entrollen. Beachte hierbei, wie gut der Heilige Geist es fügte, dass Johannes1 nichts darüber berichtete. Es hätte den Anschein haben können, als schreibe er nur, was er aus der Geschichte wisse2 . Die Männer aber, die vorher gestorben sind und nichts von all dem erlebt hatten, schreiben darüber. So steht die Kraft der Weissagung allseits in klarem Lichte da.
V.23: „Wenn euch dann jemand sagte: Siehe, hier ist Christus oder dort, glaubet es nicht!
V.24: Es werden nämlich falsche Christusse und falsche Propheten aufstehen und werden große Zeichen und S. d1087Wunder verrichten, so dass, wenn es geschehen könnte, auch die Auserwählten irregeführt würden.
V.25: Sehet, ich habe es euch vorausgesagt.
V.26: Wenn sie sonach zu euch sprechen: Sehet, er ist in der Wüste, gehet nicht zurück! Sehet, dort in den Gemächern, glaubet es nicht!
V.27: Denn wie der Blitz aufgeht vom Aufgange und hinleuchtet bis zum Niedergange, so wird auch sein die Wiederkunft des Sohnes des Menschen.
V.28: Wo immer ein Leichnam ist, dort werden sich die Adler versammeln.“
Nachdem der göttliche Heiland genug über das Schicksal Jerusalems geredet hatte, geht er schließlich über auf seine Wiederkunft und erklärt die Anzeichen derselben, deren Kenntnis nicht bloß den Aposteln, sondern auch uns und allen später Lebenden heilsam ist. „Dann“ sagt er. Wann ist das? Hier und auch sonst, wie ich schon oft erklärt habe, drückt das Wort „dann“ nicht einen unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem zuvor Erwähnten aus. Als er diese Aufeinanderfolge bezeichnen wollte, sprach er: „Sofort nach der Bedrängnis jener Tage.“ Wenn er nun hier nicht so spricht, sondern sagt:„dann“, so bezieht sich das nicht auf die Zeit unmittelbar nachher, sondern auf die Zeit, in der das geschehen soll, von dessen Eintreten er redet. So ist es auch mit den Worten: „In jenen Tagen kommt Johannes der Täufer“3 . Da meint der Evangelist auch nicht die unmittelbar folgende Zeit, sondern eine um viele Jahre spätere, da sich ereignete, wovon er eben redete. Denn auch an der Stelle, wo er von der Geburt Jesu, von der Ankunft der Weisen und dem Ende des Herodes berichtet, fährt er alsbald fort: „In jenen Tagen trat Johannes der Täufer auf“, obschon dreißig Jahre dazwischen lagen. Es ist eben der Schrift eigen, sich einer solchen Darstellungsweise zu bedienen. So ist es auch in unserem Falle. Der Herr übergeht die ganze Zeit, welche von der Eroberung Jerusalems bis zu dem Vorspiele der Vollendung verstreicht, und redet von der Zeit, die kurz vor der Vollendung liegt.
S. d1088 „Dann, wenn jemand euch sagt: Sieh, hier ist Christus oder dort, glaubet es nicht!“ Um die Jünger vor einem Irrtum in Bezug auf den Ort seiner Wiederkunft zu bewahren, gibt er die eigentümlichen Merkmale seiner zweiten Ankunft und die Zeichen der Verführer an. Er sagt, nicht so, wie er das erste Mal in Bethlehem erschien, in einem unbedeutenden Winkel der Erde und anfänglich von niemand gekannt, werde er dann erscheinen, sondern offenkundig und mit aller Herrlichkeit, ohne dass es noch eines besonderen Heroldes bedürfte. Das ist aber ein ganz wichtiges Merkmal seiner Wiederkunft, dass sie nicht im verborgenen stattfinden wird. Beachte aber, wie er jetzt nichts von einem Kriege erwähnt, um das, was er von seiner Wiederkunft sagt, genau von dem Früheren zu unterscheiden; darum redet er nur von den Betrügern. Betrüger gab es auch zu den Zeiten der Apostel: „Sie werden kommen und viele betrügen“; aber vor seiner zweiten Ankunft werden weit gefährlichere Betrüger auftreten, „sie werden Zeichen und Wunder verrichten, so dass, wenn es geschehen könnte, auch die Auserwählten irregeführt würden“. Gemeint ist der Antichrist, dem, wie er zeigt, manche dienen werden. Auch Paulus schreibt, nachdem er ihn den „Mann der Sünde“ und den „Sohn des Verderbens“ genannt, folgendermaßen über ihn: „Dessen Ankunft ist gemäß der Wirksamkeit des Satans in aller Kraft und in Zeichen und Wundern der Lüge und in jeglichem Betruge des Unrechtes für die, welche verloren gehen“4 . Sieh nun, wie der Herr die Jünger davor warnt: „Gehet nicht hinaus in die Wüste, gehet nicht hinein in die Kammern.“ Er sagt nicht: Gehet hin, aber glaubet nicht, sondern: Gehet nicht hinaus, gehet nicht hin. Denn der Betrug wird groß sein zu jener Zeit, sogar Zeichen werden zur Irreführung geschehen.