4.
Außerdem nimm dir auch an deinen Sklaven ein Beispiel. Wenn du siehst, wie einer von ihnen bei deinem Schimpfen schweigt, so beherzige dabei, dass es doch möglich ist, tugendhaft zu sein, verurteile deine eigene Heftigkeit und ziehe die Lehre daraus, vorkommenden Falls Beschimpfung nicht mit Schimpf zu beantworten, dann wirst du dich bei Beleidigungen auch nicht betrüben. Sage dir, wer schimpft, ist von Sinnen und ist toll, und du wirst bei einer Beschimpfung nicht aufgebracht werden, wie wir ja auch Besessene, wenn sie uns schlagen, viel mehr bemitleiden anstatt uns aufregen. So musst auch du handeln. Habe Mitleid mit dem, der dich beschimpft, denn er liegt unter den Krallen eines wilden Tieres, des Zornes, eines bösen Dämons, des Grolls. Befreie ihn aus der Gewalt des bösen Geistes, da er sonst gar bald ins Verderben stürzt. Darin S. d1233 besteht eben das Wesen dieser Krankheit, dass es gar keiner Frist bedarf, um den Befallenen zu vernichten, weshalb auch jemand sagte: „Der Augenblick des Zornes wird ihm zum Fall“1 . Er wollte damit namentlich andeuten, welche Gewalt der Zorn ausübt, da er keine besonders lange Frist braucht, sondern in kurzer Zeit viel Unheil stiftet, so dass er bei seiner Stärke ganz unbezwingbar wird, wenn er längere Zeit anhält. Ich wünschte, die Seele des Beschimpfenden und des Tugendhaften ganz unverhüllt vorführen zu können, um zu zeigen, was beide für Menschen sind. Da würdest du sehen, wie die eine einem aufgewühlten Meere, die andere einem friedlichen See gleicht, der von solch wilden Winden gar nicht gestört wird oder sie leicht abwehrt. Wer schmäht, lässt nichts unversucht, um zu kränken; findet er nun seine Hoffnung gescheitert, so hört er schließlich von selbst auf und geht gebessert hinweg. Ein erzürnter Mensch muss sich selbst scharf verurteilen, während einer, der nicht erzürnt ist, sich nichts vorzuwerfen hat. Hat man einmal gegen jemanden aufzutreten, so lässt es sich auch ohne Zorn tun, ja viel leichter und vernünftiger als im Zorne, da einem dabei nichts Widerwärtiges unterläuft. Wenn wir nur wollten, dann fänden wir in uns das Gute und wären mit Gottes Gnade imstande, uns unsere Ruhe und Ehre zu wahren. Warum suchst du auch deine Ehre bei anderen? Ehre dich selbst und niemand wird imstande sein, dich zu beleidigen; wenn du dich aber selbst entehrst, so wirst du keine wahre Ehre finden, und mögen auch alle dir Ehre zollen. Wie uns niemand schaden kann, wenn wir es nicht selbst tun, so kann uns auch niemand Schaden antun, wenn wir uns nicht selbst beschimpfen. Gesetzt, es würde alle Welt einen angesehenen, hochgestellten Mann als Ehebrecher, Dieb, Einbrecher, Mörder, Räuber beschimpfen; was für eine Schande wird dann auf ihn fallen, wenn er sich nicht erbittert, nicht aufbraust, sofern er sich nur keiner solchen Tat bewusst ist? Gar keine.
Wie so, entgegnest du, wenn doch viele Leute eine solche Meinung von ihm hegen? Er ist trotzdem nicht S. d1234 beschimpft worden, vielmehr haben sich diese Leute durch ihre verkehrte Meinung von ihm nur selber entehrt. Sage mir, wen beschämt man, wenn man die Sonne für finster hält, das Gestirn oder sich selbst? Offenbar sich selbst, da man eine Ansicht äußerst, als wäre man blind oder irrsinnig. Ebenso würdigt man sich aber auch herab, wenn man die Schlechten für gut hält und umgekehrt. Daher muss man mit besonderem Eifer sein Gewissen rein halten und sich keine Blöße und keinen Anlass zu einem Verdachte gegen seine Person geben; wenn dann die anderen, trotz eines solchen Betragens, dennoch Toren sein wollen, so darf man sich nicht sonderlich darum kümmern und grämen. Ist man gut, so kann es einem ja doch nichts ausmachen, wenn man in den Verdacht der Schlechtigkeit kommt, während der andere, der ohne allen Grund Böses argwöhnt, sich den schwersten Schaden zuzieht; wie ja auch ein Bösewicht nichts dabei gewinnt, wenn man ihn für besser hält, sondern nur noch leichtsinniger wird und ein um so strengeres Gericht zu gewärtigen hat. Hätte man seine wahre Meinung von ihm, so könnte ein solcher wohl sich demütigen und zur Erkenntnis seiner Sünden gelangen; bleibt es aber verborgen, was er ist, so wird er ganz gefühllos. Die Fehlenden können ja kaum durch allgemeinen Tadel zur Umkehr gebracht werden; wie sollen dann Leute, die in der Bosheit dahinleben, zur Einsicht kommen, wenn man sie, anstatt zu tadeln, auch noch belobt? Hörst du nicht, wie auch Paulus es rügt, dass die Korinther den Unzüchtigen durch ihren Beifall und ihre Ehrenbezeigungen in der Bosheit bestärkten, anstatt ihn zur Erkenntnis seiner Sünde zu bewegen? Darum bitte ich euch, kehren wir uns nicht daran, was die Leute von uns halten, ob sie uns schmähen oder ehren; lasset uns vielmehr unser ganzen Trachten darauf richten, dass wir uns keiner Schlechtigkeit bewusst seien und uns nicht selbst entehren. Dann werden wir sowohl hienieden als im Jenseits zu hoher Ehre gelangen; möge sie uns alle zuteil werden durch die Gnade und Güte unseres Herrn Jesus Christus, dem die Ehre gebührt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen!
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Eccli 1,28 ↩