1.
V.45: „Von der sechsten Stunde an entstand aber Finsternis auf der ganzen Erde bis zu der neunten Stunde.
V.46: Und um die neunte Stunde rief Jesus mit lauter Stimme und sprach: Eli, Eli, lama, sabachtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
V.47: Einige aber, welche dort standen und es hörten, sagten: Der ruft den Elias.
V.48: Und alsogleich lief einer aus ihnen, nahm einen Schwamm, füllte ihn mit Essig und legte ihn um ein Rohr und gab ihm zu trinken."
Das ist das Zeichen, das sie einst von ihm forderten. und das er ihnen zu geben versprochen hatte, indem er sagte: „Dieses böse und ehebrecherische Geschlecht verlangt ein Zeichen, und es wird ihm kein Zeichen gegeben werden als das Zeichen des Propheten Jonas"1 . Damit meint er seinen Kreuzestod, sein Begräbnis und seine Auferstehung. Ein anderer Evangelist äußerte sich über die Kraft des Kreuzes mit den Worten: „Wenn ihr erhöht haben werdet den Menschensohn, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin"2 . Damit will der Herr sagen: Wenn ihr mich gekreuzigt haben und mich überwunden zu haben glauben werdet, dann gerade werdet ihr besonderes meine Macht erfahren. Nachdem sie ihn gekreuzigt hatten, ging ja ihre Stadt zugrunde, hörte das Judentum auf, zerfiel ihr Staat und ihre Freiheit, blühte das Evangelium empor, und dehnte sich die Predigt bis an die Grenzen der Erde aus. Land und See, die bewohnte und unbewohnte Welt, ist Zeuge S. d1236 seiner Macht. Davon also spricht er, und zwar von den Ereignissen zur Zeit seines Kreuzestodes. Es ist ja auch ein viel größeres Wunder, dass das alles geschah, nachdem er ans Kreuz genagelt war, als wenn es geschehen wäre, so lange er noch auf Erden wandelte.
Indessen, nicht darin allein lag das Wunderbare, sondern dass das Zeichen am Himmel geschah, wie sie es verlangt hatten, und dass es über die ganze Welt sich erstreckte, wie es seit Menschengedenken noch nie geschehen war, außer in Ägypten, als das Osterlamm geopfert werden sollte. Das aber war ja Vorbild von diesem. Erwäge auch, zu welcher Zeit die Finsternis eintrat. Mitten am Tage, als es schon auf der ganzen Erde licht war, damit alle Bewohner der Erde es merkten. Das Wunder wäre somit imstande gewesen, alle zu bekehren, nicht bloß, weil es so außerordentlich war, sondern auch in Anbetracht des Zeitpunktes, in dem es vorfiel. Denn es geschah nach all der Tollheit und gottlosen Verhöhnung der Juden, als sich ihr Groll gelegt, als sie zu spotten aufgehört, als sie sich am Hohne gesättigt und alles, was sie nur wollten, gegen ihn geredet hatten: da lässt er die Finsternis eintreten, damit sie nach der Befriedigung ihrer Rachsucht wenigstens von dem Wunder einen Nutzen hätten. Dass er dieses Zeichen wirkte, während er am Kreuze hing, war ein größeres Wunder, als wenn er vom Kreuze herabgestiegen wäre. Hielten sie nun das Geschehnis für sein Werk, so mussten sie an ihn glauben und vor Furcht erbeben; hielten sie es nicht für sein, sondern für des Vaters Werk, so mussten sie ebenso erschüttert werden, denn diese Finsternis war jedenfalls ein Zeichen des Zornes über ihre Untaten. Nicht bloß diese Umstände, sondern auch die zeitliche Dauer offenbart, dass es keine natürliche Verfinsterung, sondern ein Zeichen des Zornes und Grimmes war; hielt sie doch drei Stunden lang an, während eine gewöhnliche Verfinsterung in einem Augenblick geschieht, wie es Leute wissen, die es selbst gesehen haben, denn auch in unseren Tagen ist etwas Derartiges eingetreten. Wie kommt es aber, fragst du, dass sich nicht alle Menschen verwunderten und sich nicht überzeugten, dass S. d1237 er Gott sei?
Das Menschengeschlecht war eben damals sehr in Gleichgültigkeit und Bosheit versunken. Zudem war es ein Wunder, das nur einmal vorkam und rasch vorüberging, auch lag niemand etwas an der Erforschung der Ursache. Ferner ist auch das Vorurteil und die Gewohnheit bei den Gottlosen stark. Endlich wussten sie auch nicht, welches die Ursache des Ereignisses war, sie wähnten vielleicht, es sei eine natürliche Finsternis oder eine sonstige Naturerscheinung. Übrigens, was wunderst du dich über die Leute außerhalb Judäas, die von nichts wussten und in folge ihrer Gleichgültigkeit keine Naturforschungen anstellten, da doch die Bewohner des Landes selbst trotz so großer Wunder noch fortfuhren zu spotten, nachdem er ihnen doch klar gezeigt hatte, dass er die Finsternis bewirkte? Das ist zugleich der Grund, warum er auch nach der Verfinsterung noch redet; er wollte zeigen, dass er noch lebte und selbst das Ereignis veranlasste, damit sie infolgedessen in sich gingen. Er spricht: „Eli,Eli, lama sabachthani", damit sie sähen, dass er bis zum letzten Atemzuge den Vater ehrt und kein Gegner Gottes ist. Er gebraucht eine Prophetenstelle, um bis zur letzten Stunde für das Alte Testament Zeugnis abzulegen, ja er spricht sie auch auf Hebräisch aus, damit die Juden es verstehen und begreifen; überhaupt gibt er in allen Stücken kund, dass er mit dem Vater eines Sinnes ist. Beachte aber auch hierbei wieder ihre Frechheit, Schamlosigkeit und Gedankenlosigkeit. Sie meinten, heißt es, er rufe den Elias und sogleich gab man ihm Essig zu trinken. „Ein anderer trat hinzu und durchbohrte mit einer Lanze seine Seite"3 . Kann es noch etwas Ruchloseres geben, etwas Wilderes, als dass sie ihre Wut so weit treiben und noch den Leichnam misshandeln? Beachte aber zugleich wie er ihre Frevel zu unserem Heile wendet. Nachdem er die Wunde empfangen, begannen dort die Quellen unseres Heiles zu sprudeln.
V.50: „Jesus aber rief mit lauter Stimme und gab seinen Geist auf."
S. d1238 Damit beweist er, was er gesagt hatte: „Ich habe die Macht mein Leben hinzugeben, und habe die Macht, es wieder zu nehmen", und: „Ich gebe es hin von mir selber aus"4 . Deshalb rief er mit lauter Stimme; er deutet an, dass er die Sache aus eigener Macht so füge. Markus erzählt, Pilatus habe sich gewundert, dass Christus schon gestorben war, und der Hauptmann sei gerade infolge der Tatsache, dass er aus freiem Willen starb, gläubig geworden5 . Dieser Ruf zerriß den Vorhang im Tempel, öffnete die Grüfte und machte das Gotteshaus öde. So tat der Herr nicht etwa aus Verachtung gegen den Tempel (wie hätte er sonst gesagt: „Machet das Haus meines Vaters nicht zu einem Kaufhause"?6), sondern um kundzutun, dass sie nicht einmal wert seien, dort zu verkehren. Es ist ein ähnlicher Fall wie damals, als Gott den Tempel in die Gewalt der Babylonier gab. Das war aber nicht der einzige Grund des Vorganges, es lag darin auch eine Weissagung der kommenden Verödung, der größeren und erhabeneren Umwandlung, sowie seiner eigenen Macht.