IX. KAPITEL. Von den Prädikaten Gottes.
Das göttliche Wesen ist einfach und nicht zusammengesetzt. Was aus Vielem und Verschiedenem S. 28 besteht, ist zusammengesetzt. Würden wir nun das Ungeschaffensein, die Anfangslosigkeit, Unkörperlichkeit, Unsterblichkeit, Ewigkeit, Güte, Schöpfermacht und dergleichen als wesenhafte Unterschiede in Gott nehmen, so wäre das aus so vielem Bestehende nicht einfach, sondern zusammengesetzt. Man muß demnach dafürhalten, daß ein jedes der Prädikate Gottes nicht bezeichnet, was Gott seinem Wesen nach ist, sondern anzeigt, entweder was er nicht ist, oder eine Beziehung zu etwas, das sich von ihm unterscheidet, oder etwas, das seine Natur begleitet, oder eine Wirksamkeit.
Von all den Namen, die von Gott ausgesagt werden, scheint der treffendste „der Seiende“ zu sein. So nennt er sich selbst dem Moses gegenüber beim Berge (Horeb), wenn er spricht: „Sage den Söhnen Israels: Der Seiende (der da ist) hat mich gesandt 1.“ Denn er hat das ganze Sein in sich zusammengefaßt wie ein unendliches, grenzenloses Meer von Wesenheit 2. Wie aber der hl. Dionysius 3 sagt, [ist der treffendste Name] „der Gute“. Denn man kann bei Gott nicht sagen: Zuerst das Sein und dann das Gute.
Ein zweiter Name ist Θεός [Theos] (Gott). Er wird abgeleitet von θέειν 4, laufen, alles umkreisen, oder von S. 29 αἴθειν [aithein], d. h. brennen; denn Gott ist ein Feuer, das jegliche Schlechtigkeit verzehrt 5, oder von θεᾶσθαι [theasthai], weil er alles sieht. Denn nichts entgeht ihm, von allem ist er Augenzeuge. [Er sieht alles, bevor es geschieht 6, in zeitlosem Denken, und jegliches geschieht nach seinem zeitlosen Willensentschluß, der Vorherbestimmung, Bild und Muster ist, in der vorherbestimmten Zeit] 7.
Der erste [Name] also bezeichnet das Sein selbst und das Wassein, der zweite aber eine Tätigkeit. Die Anfangslosigkeit, die Unvergänglichkeit, das Ungewordensein oder Ungeschaffensein, die Unkörperlichkeit, die Unsichtbarkeit u. dgl. zeigen an, was er nicht ist, nämlich, daß er nicht zu sein angefangen hat, nicht vergeht, nicht geschaffen ist, nicht Körper, nicht sichtbar ist. Die Güte, Gerechtigkeit, Heiligkeit u. dgl. begleiten die Natur, allein das Wesen selbst offenbaren sie nicht. Der Name Herr, König u. dgl. drückt eine Beziehung aus zu dem, was gegenübersteht. Den Beherrschten gegenüber heißt er Herrscher (Herr), den Regierten gegenüber Regent (König), den Geschöpfen gegenüber Schöpfer, den Gehüteten gegenüber Hüter (Hirte).
Exod. 3, 14. ↩
Das kursiv Gedruckte wörtlich aus Greg. Naz., Or. 38, 7 (Migne, P. gr. 36, 317 B). ↩
Eine Stelle, worin von Pseudo-Dionysius Gott ausdrücklich „der Gute“ (ὁ ἀγαθός) [ho agathos] genannt wird, konnte ich nicht finden. Dagegen handelt er De div. nominibus c. 2, 1 (Migne, P. gr. 3, 636 C—637 C) über diesen Namen ἀγαθός [agathos], der Gott zukommt. Er führt Matth. 19, 17 an: „Einer ist der Gute, Gott!“ A. a. O. 636 C heißt Gott „die absolute Güte“ (ἡ αὑτοαγαθὀτης) [hē autoagathotēs], c. 2, 3 (Migne, P. gr. 3, 640 B) „das Übergute“ (τὸ ὑπεραγαθόν) [to hyperagathon] und „das Gute“ (τὸ ἀγαθόν) [to agathon], c. 2, 4 (Migne, P. gr. 3, 641 A) „die übergute Güte“ (ἡ ὑπεράγαθος ἀγαθὀτης) [hē hyperagathos agathotēs]. ↩
Bereits Platon leitet θεός [theos] von θέειν [theein] ═ laufen ab. Er ist der Meinung, die Ureinwohner Griechenlands hätten nur die Götter gehabt, die zu seiner Zeit die meisten Barbaren verehrten, nämlich Sonne, Mond, Erde, Gestirne, Himmel. Da sie alle diese in beständigem Laufe sahen, so nannten sie dieselben nach ihrer Natur, nach dem Laufen ═ θεῖν [thein], θεούς [theous]. Plat. in Cratylo ap. Eus., Evangelic. Praeparat. I 9, rec. Gaisford (Oxonii 1843) 63. ↩
Vgl. Deut. 4, 24; 9, 3; Hebr. 12, 29. Auch Gregor v. Nazianz, Or. 30, 18 (Migne, P. gr. 36, 128 A) leitet θεός [theos] von θέειν [theein] oder αἴθειν [aithein] ab. ↩
Dan. 13, 42 nach der Vulgata. ↩
Das Eingeklammerte fehlt in einigen Handschriften und scheint eine Glosse zu sein. ↩
