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Gut, daß dieser Schriftvers uns gemahnte, den fast verlorenen Faden wieder aufzugreifen. Wir sprachen nämlich davon, wie auf das Befehlswort des Herrn auch der Weinstock gesproßt sei, der später nach der Sintflut, wie wir wissen, von Noe gepflanzt wurde; denn so liest man: „Noe war ein Landbebauer und pflanzte einen Weinstock. Und er trank von dessen Wein und schlief ein“1. Noe ist also nicht der Urheber des Weinstockes, sondern nur seiner Pflanzung; und er hätte ihn nicht pflanzen können, wenn er ihn nicht schon als Erzeugnis vorgefunden hätte. Nur der Pflanzer, nicht der Schöpfer des Weinstockes also ist er. Gott aber, der wußte, daß der Wein, mäßig genossen, Gesundheit verleiht2, das Denken fördert, unmäßig genommen, Anlaß zur Sünde gibt, bot die geschöpfliche Gabe dar und überließ deren reichlichere Produktion dem S. 130 menschlichen Belieben: Das karge Maß der Natur sollte eine Mahnung zur Mäßigkeit sein, das Schädliche des Übermaßes und den Fall der Trunkenheit das Menschengeschöpf sich selbst zuschreiben. Selbst auch Noe wurde denn berauscht und schlief von Wein trunken ein3. Beim Weingenuß erwies er sich, der bei der Sintflut zu so hohem Ruhm gelangte, schimpflicher Verirrung zugänglich.
Doch auch darin wahrte der Herr diesem seinem Geschöpfe einen Vorzug, daß er uns dessen Frucht zum Heile wandelte, und durch sie uns Nachlaß der Sünden werden sollte4. Frommes Sinnes sprach darum Isaak: „Der Geruch Jakobs ist der Geruch vollen Feldes“5, d. i. natürlicher Wohlgeruch. Was gibt es denn auch Lieblicheres als ein volles Ackerfeld, was Köstlicheres als Rebenduft, was Anmutigeres als Bohnenblüte? Mag daher ein Autor6 vor uns noch so geistreich bemerkt haben: „Nicht den Duft der Rebe oder der Feige oder der Getreidefrucht, sondern den Wohlgeruch der Tugend strömte der Patriarch aus“: ich doch verstehe die schönen Segensworte zugleich auch7 von jenem echten und reinen irdischen Wohlgeruch, den keine Fälschung künstlich herstellte, sondern die Wahrheit der himmlischen Huld träufelte. Erscheint doch auch unter den hochheiligen Segensgebeten die Bitte aufgenommen, es möge der Herr uns vom Tau des Himmels die Kraft des Weines, des Öles und des Getreides verleihen8. Ihm ist Ehre, Lob, Ruhm, Unvergänglichkeit von Ewigkeit und jetzt und immerdar und in alle Ewigkeiten der Ewigkeiten. Amen.
Gen. 9, 20 f. ↩
Vgl. Sir. 31, 37 f. (34, 28 f.). ↩
Gen. 9, 21. ↩
Anspielung auf das eucharistische Opferelement des Weines, bezw. auf die Einsetzungsworte: „Das ist mein Blut. . . . zur Vergebung der Sünden“. Matth. 26, 28. ↩
Gen. 27, 27. ↩
Vermutlich Hippolyt oder Origenes. Vgl. Philo, Quaest. in Gen. IV 214. ↩
Die allegorische Deutung, die Ambr. De Jac. II, 1, 4 selbst vorträgt, wird also auch an der obigen Stelle nicht ausgeschlossen. ↩
Gen. 27, 28. ↩
