19. Cap. Von dieser vermeintlichen Offenbarung hat vor Marcion niemand etwas gewusst.
Nein, erwidern die Marcioniten, unser Gott hat sich allerdings nicht von Anbeginn an, und nicht durch eine Schöpfung, sondern durch sich selbst geoffenbart in Christus Jesus. Wir werden auch über Christus und sein ganzes Wesen ein besonderes Buch liefern.1 Denn es ist notwendig, den Stoff zu teilen, um ihn in vollständiger und geordneter Weise zu behandeln. Vorläufig dürfte es ausreichen, die gegenwärtige Finte so zu parieren, dass ich zeige, Christus war nicht Herold für irgend einen sonstigen Gott, sondern nur für den Schöpfergott, und auch das nur mit wenigen Worten.
Im 15. Jahre des Tiberius würdigte sich Christus, vom Himmel auszugehen als der Geist des Heiles. In welchem Jahre des ältern Antoninus die Hundstagshitze den Heiland des Marcion, d. h. den, der es sein wollte, S. 152 in ihrem Pontus ausbrütete, habe ich versäumt zu untersuchen. Was aber feststeht, ist, dass er ein Häretiker aus der Zeit des Antoninus des Frommen unter dem Frommen ein Unfrommer war. Von Tiberius bis Antoninus sind aber ungefähr 115 1/2 Jahr und ein halber Monat.2 Ebenso lang ist der Zeitraum, den man zwischen Christus und Marcion ansetzt. Da Marcion, wie wir bewiesen haben, der erste war, der unter Antoninus diesen Gott einführte, so ist die Sache für jeden Verständigen sofort klar. Die Zeitverhältnisse gebieten die Annahme, dass, was unter Antoninus zum ersten Mal aufgetreten ist, nicht schon unter Tiberius erschienen sein könne, d. h. dass der Gott der Antoninischen Regierungszeit der Tiberianischen nicht angehöre, und dass mithin der Gott, den Marcion zuerst predigte, nicht von Christus geoffenbart sein kann.
Was an dem Beweise noch fehlt, will ich jetzt von den Gegnern selbst entlehnen. Die Trennung von Gesetz und Evangelium ist die Eigentümlichkeit und das Hauptwerk des Marcion, und seine Anhänger können nicht leugnen, was in ihrer Hauptschrift steht, auf welche sie in diese Häresie aufgenommen und vereidigt werden. Es sind das Marcions sog. Antithesen, d. h. Gegenüberstellungen, welche es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Abweichungen des Evangeliums vom Gesetz einander entgegen zu stellen, um aus der Verschiedenheit der Ansichten beider auch die Verschiedenheit der betreffenden Götter darzuthun. Da nun die Scheidung von Gesetz und Evangelium es eben ist, welche gegenüber dem Gott des Gesetzes einen andern Gott des Evangeliums plausibel machen soll, so ist klar, dass der Gott, welcher vom Augenblicke jener spitzfindigen Scheidung an in die Erkenntnis trat, vorher nicht bekannt war, dass er also nicht von Christus, der vor dieser Scheidung lebte, zuerst geoffenbart, sondern von Marcion ersonnen wurde, der die Trennung einführte und die Harmonie von Evangelium und Gesetz zerstörte. Um diese Eintracht früher, von dem Auftreten Christi an bis zu der Frechheit des Marcion, unangefochten und unbestritten zu erhalten, dazu trug dann auch der Grund bei, der weder für das Gesetz noch für das Evangelium neben dem Schöpfergott einen anderen Gott duldete, gegen welchen erst so und so viel später die Scheidung von dem Manne aus Pontus angewendet wurde.