20. Cap. Die Marcionitische Entgegenstellung von Gesetz und Evangelium.
Dieser so bündige Beweis bedarf von unserer Seite doch noch einer Verteidigung gegen die Widerreden der Gegenpartei. Marcion, geben sie vor, habe mit seiner Scheidung von Gesetz und Evangelium nicht eine Neuerung in der Glaubensregel gemacht, sondern eine Fälschung derselben S. 153 wieder beseitigt. O du geduldiger Herr Jesu, der du die Verdrehung deiner Lehren dir so viele Jahre lang hast gefallen lassen, bis endlich Marcion dir zu Hilfe kam! Selbst Petrus und die übrigen Säulen des Apostolats, lautet ihr Einwand, wurden von Paulus getadelt, weil sie nicht den richtigen Weg gegangen seien — natürlich von Paulus, der selbst in der Gnade noch ein Neuling war und der, weil er fürchtete, er könne vergeblich laufen oder gelaufen sein, damals zum ersten Mal mit seinen Vorgängern im Apostolate zusammenkam. Wenn er noch etwas hitzig, wie Neophyten sind, gegen einen Judaismus in der Lebensweise einen Tadel aussprechen zu müssen glaubt, nämlich gegen das unterschiedslose Zusammenessen mit allen, wenn er nachher aber, um allen alles zu werden, um alle zu gewinnen, für die Juden ein Jude und für die unter dem Gesetze Stehenden wie ein dem Gesetze Unterworfener wird, so willst du einen blossen Tadel der Lebensweise, die der Tadler nachher selbst annahm, zu einer Verdächtigung ihrer Lehre und Predigt in betreff Gottes stempeln. Allein sie hatten sich ja auf Grund ihrer Einheit in der Lehre, wie es weiter oben hiess, die Hände gereicht und durch Verteilung der Arbeit wie auch in anderer Hinsicht selbst gemeinschaftliche Sache gemacht. „Sie sowohl als ich“, sagt er, „predigen so.“1
Auch wenn er vom Einschleichen gewisser falscher Brüder, welche die Galater zu einem andern Evangelium hinüberziehen wollten, eine Beschreibung macht, so gibt er damit selbst zu erkennen, diese Fälschung des Evangeliums habe nicht die Übertragung des Glaubens auf einen andern Gott und einen andern Christus, sondern die Beibehaltung der Disziplin des alten Bundes zum Zweck gehabt. Denn er hatte gefunden, dass sie die Beschneidung beibehielten, die Festzeiten, Tage, Monate und Jahre der jüdischen Ceremonien beobachteten, deren Abschaffung ihnen hätte bekannt sein müssen, gemäss der veränderten Anordnung des Schöpfergottes, der dies ehedem selbst durch seine Propheten angekündigt hatte, z. B. durch Isaias: „Das Alte ist vorüber, siehe, alles ist neu, was ich jetzt thue“,2 und an einer andern Stelle: „Und ich werde einen Bund errichten, nicht wie ich ihn mit euren Vätern errichtet habe, als ich sie aus dem Lande Ägypten herausführte.3 So auch durch Jeremias: „Macht euch neu ein neues Bruchland und beschneidet euch für euren Gott und beschneidet die Vorhäute eures Herzens.“4 Indem also der Apostel in der Lage war, diese Beschneidung und diese Erneuerung bereits citieren zu können, riet er von jenen alten Ceremonien ab, über deren einstiges Aufhören ihr Urheber in Person durch Oseas sich ausgesprochen hatte: „Und ich werde alle ihre Freuden, ihre Festtage, S. 154 Neumonde, Sabbate und alle Ceremonien abschaffen.“5 So spricht er durch Isaias: „Eure Neumonde, Sabbate und den grossen Tag begehre ich nicht, euere Ferialtage, Fasten und Festtage hasst meine Seele.“6 Wenn also der Schöpfergott bereits alle diese Dinge längst verschmäht und der Apostel schon ihre Verwerfung ausgesprochen hatte, so beweist diese mit den Beschlüssen des Schöpfergottes übereinstimmende Sentenz des Apostels, dass von letzterem kein anderer Gott gepredigt worden sei, als der, dessen Beschlüsse er eben anerkannt zu sehen wünscht. Damit brandmarkt er in diesem Punkte als falsche Apostel und Brüder alle diejenigen, welche das Evangelium des Christus des Schöpfergottes von der durch ihn angekündigten Erneuerung zu den von ihm verworfenen alten Gewohnheiten hinüberleiten würden.