24. Cap. Die Erlösung, wie sie sich in Wirklichkeit darstellt, lässt die Annahme eines bloss gütigen Gottes, der nicht auch gerecht ist, nicht zu.
Wie Gott ewig und vernünftig, so sollte ich denken, sei er auch in allen Dingen vollkommen. „Ihr werdet vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“1 Weise nun auch seine Vollkommenheit in der Güte nach! Wenn es auch schon hinlänglich feststeht, S. 160 dass die Art von Güte, welche sich weder als natürlich noch als vernünftig erwiesen hat, eine unvollkommene sei, so soll sie nun auch noch auf andere Weise zu Schanden gemacht werden, als nicht bloss unvollkommen, sondern sogar mangelhaft, gering, ohnmächtig und als für die Mehrzahl ihrer Gegenstände nicht ausreichend, weil sie sich nicht in allen zeigt.
Es werden nämlich nicht alle gerettet, sondern weniger als alle Juden und Christen des Demiurgen zusammen. Wenn aber die Zahl der Verlorengehenden grösser ist, wie kann man da die Güte als vollkommen hinstellen, da sie beim grössern Teil ihre Schuldigkeit nicht thut, nur für wenige vorhanden, für die Mehrzahl aber nicht da ist, dem Verderben nachgibt und Teilhaberin an ihrem Untergang ist? Wenn die Mehrzahl nicht gerettet wird, so wird nicht die Güte, sondern die Bosheit vollkommener sein. Denn wie es eine Bethätigung der Güte ist, zu erretten, so der Bosheit, nicht zu erretten. Wenn sie sich aber, weil sie nur wenige rettet, mehr im Nichtretten bethätigt, so wird sie vollkommener sein im Nichthelfen als im Helfen. Es wird nicht angehen, dass Du auch dem Demiurgen Güte zuschreibst und den Abfall der Gesamtheit. Denn wenn Du an seiner Eigenschaft als Richter festhältst, so beweisest Du damit höchstens, dass er ein Verwalter, nicht aber ein Verschenker von reichlicher Güte sei, wie Du es von Deinem Gott behauptest. Du stellst letzteren ja beständig über den Demiurgen wegen seiner ausschliesslichen Güte; wenn er aber dieselbe ausschliesslich und vollständig besitzt, so hätte er niemanden im Stich lassen dürfen.
Allein ich will dem Gotte Marcions nicht weiter wegen der Mehrzahl der verloren Gehenden vorwerfen, dass seine Güte eine nur unvollkommene ist. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass selbst die, welche von ihm gerettet werden, das Heil nur unvollständig erlangen, um zu zeigen, dass seine Güte nur eine unvollkommene sei. Sie werden nämlich bloss der Seele nach gerettet, das Fleisch aber bleibt verloren, indem es bei ihm keine Auferstehung gibt. Woher kommt diese Halbierung des Erlösungswerkes, wenn nicht aus dem Mangel an Güte? Was hätte der vollkommenen Güte mehr entsprochen, als den Menschen, da er vom Demiurgen ganz verdammt, vom guten Gott ganz wieder angenommen war, auch wieder ganz zum Heile zu führen? So viel ich weiss, gibt es bei ihm ja eine Taufe für den Leib, der Leib entsagt der Ehe und erleidet beim Bekenntnis Grausamkeiten. Wenn auch Fleischessünden vorkommen, so geht dabei doch eine Verschuldung der Seele voraus, und die Hauptschuld ist vielmehr ihr beizumessen, da der Leib nur als Gehilfe konkurriert. Daher sündigt auch der von der Seele getrennte Leib nicht mehr.
Also ist seine Güte auch darin ungerecht und zeigt folglich auch darin ihre Unvollkommenheit, dass sie die weniger schuldige Substanz, S. 161 die doch bloss aus Gehorsam, nicht aus eigenem Willen gesündigt hat, im Verderben lässt. Wenn Christus, wie es deiner Häresie, o Marcion, zu lehren beliebt, sie auch nicht in Wirklichkeit angenommen hat, so hat er sich doch gewürdigt, sich mit etwas ihr Ähnlichem zu bekleiden. Eben darum, weil er sie fingierte, hätte er ihr doch eine Rücksicht angedeihen lassen müssen. Was ist der Mensch denn aber anders als ein Leib, da der Name Mensch der leiblichen Materie, nicht der geistigen vom Schöpfer beigelegt worden ist. „Und Gott schuf“, heisst es, „den Menschen aus dem Lehm der Erde“, nicht die Seele, heisst es, schuf er; denn diese kam aus seinem Anhauch „und es wurde der Mensch zur lebenden Seele“. Wer denn? Natürlich doch nur der aus dem Lehm Gebildete. „Und Gott setzte den Menschen ins Paradies“, nämlich das Resultat seines Bildens, nicht das seines Hauchens, ihn, der jetzt Fleisch, nicht Seele war.
Wenn dem so ist, mit welcher Stirn willst Du folglich behaupten, die Eigenschaft der Güte sei in vollkommener Weise vorhanden, da sie nicht bloss von ihrer speziellen Aufgabe, den Menschen zu erlösen, abgewichen ist, sondern auch von ihrer Beschaffenheit im allgemeinen? Wenn die Gnade vollkommen und die Erbarmung, welche der Seele allein zu gut kommt, vollständig sein soll, dann verdiente ja unser gegenwärtiges Leben, welches wir als ganze vollständige Wesen geniessen, den Vorzug. Teilweise auferstehen wäre eine Strafe, keine Erlösung.
Die vollkommene Güte hätte auch bewirken müssen, dass der Mensch, wenn er durch die Erlösung zum Glauben an den guten Gott gelangt ist, sofort aus der Behausung und Knechtschaft des bösen Gottes befreit würde. Jetzt aber, o Marcion, phantasierst Du im Fieberwahn; der Schmerz Deines Leibes gebiert Dir auch die andern Dornen und Disteln und Du bist nicht bloss Kriegen, Krankheiten und den sonstigen Plagen ausgesetzt, die vom Demiurgen herrühren, sondern auch seinen Skorpionen. Worin besteht nun die Errettung von seiner Herrschaft, die Dir zuteil geworden, wenn seine Mücken Dich noch stechen? Wenn Du für die Zukunft erlöst bist, warum gilt Deine Erlösung nicht auch für die Gegenwart, wenn sie eine so vollkommene ist? Wir befinden uns freilich in einer ganz andern Lage gegenüber dem Urheber, dem Richter, dem beleidigten Herrn des Geschlechtes. Du dagegen gibst dem bloss guten Gott den Vorzug, kannst aber nicht beweisen, dass er vollkommen gut sei, da Du nicht vollständig von ihm erlöst wirst.
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Matth. 5, 48. [nicht: Matth. 5, 4, 8] ↩