27. Cap. Das Urteilen über Gute und Böse würde bei ihm zum blossen Schein herabsinken.
„Allein sein Gericht besteht ja eben darin, dass er das Böse nicht will, das Verdammen darin, dass er etwas verbietet, Vergeben aber übt er, indem er nicht ahndet, und Nachlassung erteilt er, indem er nicht straft.“ — Aha! also Gott weicht von der Wahrhaftigkeit ab und cassiert sein Urteil. Er fürchtet sich, das zu verdammen, was er verurteilt; er fürchtet sich zu hassen, was er nicht liebt; er lässt geschehen sein, was er nicht geschehen lässt; er zieht es vor, lieber seine Abneigung zu erkennen zu geben, als sie zu bethätigen. Das wäre eine bloss eingebildete Güte, eine Phantasiedisziplin, seine Vorschriften selbst eine Spiegelfechterei, die Sünde bliebe ungestört! Hört es, ihr Sünder, und ihr, die ihr es noch nicht seid, damit ihr es werdet! Es ist ein besserer Gott entdeckt worden, der weder beleidigt werden, noch zürnen und ahnden kann, der kein Feuer in der Hölle lodern lässt, bei dem uns kein Zähneknirschen in der äussersten Finsternis in Schrecken setzt; denn er ist ausschliesslich gut. Infolge davon verbietet er zwar die Sünde, aber S. 165 bloss auf dem Papiere. Es steht ganz bei euch, ob ihr euch zum Gehorsam gegen ihn verpflichten wollt, damit es wenigstens den Schein hat, als hättet ihr Gott die Ehre angethan; denn Furcht verlangt er nicht. Daher brüsten sich denn die Marcioniten auch damit, dass sie ihren Gott ganz und gar nicht fürchten. Wenn er böse wäre, sagen sie, dann würde er gefürchtet, der gute hingegen wird geliebt werden. Wenn du ihn den Herrn nennst und dabei doch sagst, man brauche ihn nicht zu fürchten so ist das ein Unsinn; denn der Name Herr bezeichnet ja eben eine Furcht einflössende Machtstellung.
Auf der andern Seite, wie ist es möglich, ihn zu lieben, wenn man bei Versagung der Liebe keine Besorgnis zu hegen braucht. Offenbar ist er dann auch nicht dein Vater, denn einem Vater gegenüber gebührt sich sowohl Liebe infolge der kindlichen Anhänglichkeit, als auch Furcht wegen seiner Macht; er ist auch nicht dein rechtmässiger Herr, so dass du ihn liebest wegen seiner Milde und fürchtest wegen seiner Strenge. Auf diese Weise liebt man die Verführer, ohne sie zu fürchten. Denn man fürchtet nichts als die gerechte und rechtmässige Gewalt. Geliebt kann aber auch die unrechtmässige werden; denn sie gründet sich auf Verlockung, nicht auf Autorität, auf schwache Nachgiebigkeit, nicht auf Macht. Gibt es aber eine grössere Schwäche, als die Sünden so hingehen zu lassen? Wohlan denn, dich frage ich also, der du Gott nicht fürchtest im Glauben, dass er ausschliesslich gütig sei, warum versenkst du dich nicht in jegliche Art Wollust, welche, soviel ich weiss, für die, welche Gott nicht fürchten, das Höchste ist, was das Leben bietet? Warum bist du nicht bei den solennen Lüsten des tobenden Circus, des aufgeregten Theaters und der lüsternen Bühne fleissig zugegen? Warum kommst du bei Verfolgungen nicht sofort von selbst mit Weihrauch in der Hand und suchst dein Leben zu erkaufen? Gott behüte, nein, antwortest du. Mithin fürchtest du dich vor der Sünde und lieferst durch deine Furcht den Beweis dafür, dass der, welcher die Sünde verboten hat, Furcht einflösse. Ist es denn aber etwas anderes, wenn du mit derselben Verkehrtheit, wie dein Gott, einem gehorchst, den du doch nicht fürchtest, als wenn er verbietet und doch nicht ahndet?1
Noch viel thörichter ist es, wenn sie, gefragt, was denn „an jenem Tage“ aus dem Sünder werde, zur Antwort geben, er werde verworfen sozusagen von Gottes Angesichte. Das geschieht denn doch auch nur infolge eines Gerichtes. Das Urteil lautet: „Er werde verworfen“, und zwar durch ein Urteil der Verdammung; oder es müsste etwa sein, dass der Sünder zu seinem Heile verworfen würde und auch dergleichen S. 166 dem guten Gott angemessen sei. Was sollte denn Verwerfung anders bedeuten als verlieren, was man hätte erlangen können, wenn man eben nicht verworfen worden wäre, nämlich das Heil? Also man wird zum Verluste des Heiles verworfen werden und ein solcher Beschluss kann nur gefasst werden von einem Erzürnten, einem Beleidigten und einem Rächer der Sünde, d.h. von einem Richter.
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Mir scheint, dass dieser Satz notwendig als Frage gefasst werden muss, sonst würden aliud und eadem sich direkt aufheben. ↩