XXV. Kapitel: Wie man diejenigen zu ermahnen hat, welche aus zu großer Demut dem Predigtamte sich entziehen, und wie diejenigen, welche es mit voreiligem Eifer übernehmen
Anders muß man diejenigen ermahnen, welche zwar würdig predigen könnten, aus zu großer Demut aber sich davor fürchten, und anders diejenigen, welche ihre Unvollkommenheit oder ihr unreifes Alter vom Predigen abhalten sollte, während sie ihr voreiliger Eifer dazu antreibt. Diejenigen, welche zwar mit Nutzen predigen könnten, aber aus übermäßiger Demut sich davon ferne halten, sollen einer geringfügigeren Sache entnehmen, was sie sich in einer so wichtigen Angelegenheit zuschulden kommen lassen. Wenn sie nämlich ihr Geld vor notleidenden Mitmenschen versteckten, so würden sie ohne Zweifel zu deren Elend noch mithelfen. Nun können sie sehen, was für eine Schuld sie auf sich laden, wenn sie das Wort der Predigt ihren sündigen Brüdern entziehen und vor dahinsterbenden Seelen die lebenspendenden Heilmittel verborgen halten. Darum sagt mit Recht ein Weiser: „Verborgene Weisheit und ein versteckter Schatz, wozu sind beide nütze?“1 Wenn eine Hungersnot über das Volk käme und sie heimlich Getreide versteckt hielten, so wären sie ohne Zweifel schuldig, daß Leute verhungern. Mögen sie also bedenken, welche Strafe diejenigen verdienen, die das Brot der empfangenen Gnade nicht ausspenden, obwohl die Seelen aus Hunger nach dem Worte dahinsterben. Darum sagt Salomon treffend: „Wer Getreide verbirgt, wird unter den Völkern verflucht sein.“2 Getreide verbirgt, wer die Worte heiliger Predigt bei sich behält. Bei den Völkern aber wird ein solcher verflucht: denn sein Stillschweigen allein verschuldet es, daß er zur S. 213 Strafe für die vielen, die er hätte zur Besserung bringen können, verdammt wird. Wenn Heilkundige sähen, daß eine Wunde aufgeschnitten werden muß, und sie weigerten sich dennoch zu schneiden, so machten sie sich schon wegen dieser Nachlässigkeit des Brudermordes schuldig. Die also die Seelenwunden kennen und sie durch ihre Worte nicht heilen wollen, mögen zusehen, was für eine Schuld sie auf sich laden. Darum heißt es mit Recht beim Propheten: „Verflucht, wer sein Schwert abhält vom Blute!“3 Man „hält das Schwert vom Blute ab“, wenn man das Wort der Predigt zurückhält, das Leben nach dem Fleische zu töten. Von diesem Sehwerte heißt es an einer andern Stelle: „Mein Schwert soll Fleisch fressen.“4 Wenn sie also das Wort der Predigt bei sich verborgen halten, sollen sie mit Schrecken die gegen sie gerichteten göttlichen Aussprüche erwägen, damit Furcht die Furcht aus ihren Herzen vertreibe. Sie sollen hören, daß derjenige, welcher sein Talent nicht benützen wollte, es verlor und das Verdammungsurteil hören mußte. Sie sollen hören, daß Paulus sich deshalb für rein vom Blute der Mitmenschen hielt, weil er in der Rüge ihrer Fehler keine Schonung geübt hatte: „Ich bezeuge euch an dem heutigen Tage, daß ich rein bin vom Blute aller. Denn ich habe mich nicht entzogen, euch den ganzen Ratschluß Gottes zu verkünden.“5 Sie sollen hören, wozu Johannes durch die Stimme des Engels ermahnt wird: „Wer hört, der sage: Komm!“6 Wem sich nämlich die innere Stimme vernehmlich macht, der soll seine Stimme erheben und auch andere dorthin ziehen, wohin er sich selbst gezogen fühlt; unterläßt er das, so wird er, obwohl gerufen, verschlossene Türen finden, weil er leer vor dem Rufenden erscheint. Sie sollen hören, daß Isaias, vom göttlichen Licht erleuchtet, mit lautem Bußrufe sich selbst tadelte, weil er den Dienst des Wortes unterlassen und geschwiegen hatte: „Wehe mir, daß ich geschwiegen habe!“7 Sie S. 214 sollen hören, daß durch Salomon dem ein Fortschritt in der Predigtkunst versprochen wird, der das Maß, das er bereits erhalten, von Lauheit freihält. Er sagt nämlich: „Eine Seele, die segnet, wird reichlich gesättigt werden; und wer reichlich tränkt, wird auch selbst reichlich getränkt werden.“8 Denn wer nach außen durch die Predigt segnet, der empfängt die Fülle inneren Fortschrittes; und wenn er nicht abläßt, das Herz der Zuhörer mit dem Wein des Wortes zu berauschen, nimmt auch er zu, berauscht von dem Trank vermehrter Gnade. Sie sollen hören, was David Gott für ein Opfer darbrachte, indem er die empfangene Predigtgabe nicht vergrub: „Siehe, ich werde meinen Lippen nicht wehren. Herr, du weißt es! Deine Gerechtigkeit habe ich nicht in meinem Herzen verborgen; deine Wahrheit und dein Heil habe ich gepriesen.“9 Sie sollen beachten, was der Bräutigam zur Braut sagt: „Die du in den Gärten wohnst, Freunde lauschen; laß mich deine Stimme hören!“10 Die Kirche wohnt nämlich in den Gärten und behütet die angelegten Tugendpflanzungen, bis deren inneres Wachstum gediehen ist. Die Freunde horchen auf ihre Stimme, d. h. alle Auserwählten haben Verlangen nach der Verkündigung des göttlichen Wortes; und selbst der Bräutigam verlangt diese Stimme zu hören; denn in den Seelen seiner Auserwählten sehnt er sich nach der kirchlichen Predigt. Sie sollen hören, was Moses sagte, als er sah, daß Gott dem Volke zürnte und nach dem Racheschwert zu greifen befahl; er erklärte nämlich alle jene als Streiter Gottes, die ohne Zaudern die Übeltäter bestraften, indem er sagte: „Ist einer des Herrn, so geselle er sich zu mir. … Jeder tue sein Schwert um seine Hüfte und gehet hin und her, von Tor zu Tor durch die Mitte des Lagers und jeglicher töte seinen Bruder und seinen Freund und seinen Nachbar.“11 Das Schwert gürtet um seine Hüfte, wer das Predigtstudium den fleisch- S. 215 lichen Lüsten vorzieht; denn wenn jemand von heiligen Dingen reden will, so muß er die unerlaubten Versuchungen bezähmen. „Von Tor zu Tor gehen“ heißt, ein seelenmordendes Laster nach dem andern bekämpfen. „Durch die Mitte des Lagers gehen“ heißt, mit solcher Unparteilichkeit in der Gemeinde leben, daß man in seinem Streite wider die Sünde niemanden begünstigt. Darum heißt es mit Recht: „Jeglicher töte seinen Bruder und seinen Freund und seinen Nachbar.“ Bruder, Freund und Nachbar tötet, wer, wenn er Strafwürdiges findet, mit dem Schwert der Zurechtweisung auch die Blutsfreunde nicht verschont. Wenn also der als Streiter Gottes gilt, der durch die Liebe zu Gott zur Bestrafung der Sünden angeeifert wird, so will offenbar derjenige Gott nicht angehören, der sich weigert, das Leben fleischlicher Menschen genügend zu rügen.
Jene hingegen, welche ihre Unvollkommenheit oder ihr unreifes Alter vom Predigtamt ausschließt, während sie doch in unbedachtsamer Eile darnach greifen, muß man ermahnen, sie sollen sich doch nicht durch eilfertige Anmaßung eines so wichtigen und schwierigen Amtes den Weg zu späterer Besserung abschneiden; denn wenn sie unzeitig auf sich nehmen, was ihre Kräfte übersteigt, machen sie sich auch zu dem unfähig, was sie einmal zur rechten Zeit hätten leisten können; und es wird sich in gerechter Weise zeigen, daß sie um die Wissenschaft gekommen sind, welche sie unziemlich zur Schau tragen wollten. Man muß ihnen zu erwägen geben, daß die jungen Vögel, wenn sie fliegen wollen, ehe ihnen die Flügel erstarkt sind, anstatt sich in die Höhe zu schwingen, in die Tiefe stürzen. Man muß ihnen zu erwägen geben, daß man kein Haus, sondern eine Ruine baut, wenn man die schweren Balken auf neue, noch nicht gefestigte Mauern legt. Man muß ihnen zu erwägen geben, daß die Frauen nicht die Häuser, sondern die Gräber füllen, wenn sie die Kinder vor ihrer vollen Entwicklung gebären. Darum wollte auch die ewige S. 216 Wahrheit selbst, welche doch auf einmal kräftig machen konnte, wen sie wollte, doch den spätem Geschlechtern ein Beispiel geben, nicht unvorbereitet das Predigtamt sich anzumaßen, und unterrichtete deshalb die Apostel gründlich in der Kunst zu predigen und fügte dann bei: „Ihr aber bleibet in der Stadt, bis ihr ausgerüstet werdet mit der Kraft aus der Höhe!“12 In der Stadt bleiben wir, wenn wir uns in das Innere unseres Herzens zurückziehen und nicht mit der Rede draußen umherschweifen, um dann, wenn wir mit der göttlichen Kraft vollständig ausgerüstet sind, gleichsam aus uns heraustretend die Unterweisung anderer zu beginnen. Darum heißt es bei einem Weisen: „Jüngling! in deiner eigenen Sache rede kaum; und erst wenn du zweimal gefragt wirst, so nehme deine Antwort ihren Anfang!“13 Aus demselben Grunde wollte auch unser Erlöser, obwohl er als Schöpfer im Himmel thront und in der Entfaltung seiner Macht allezeit der Lehrer der Engel ist, doch hier auf Erden vor seinem dreißigsten Jahr nicht Lehrer der Menschen werden. Er wollte dadurch den Eilfertigen eine große heilsame Furcht einflößen, da er selbst, der nicht sündigen konnte, nicht vor dem vollkommenen Alter die Gnade des vollkommenen Lebens predigte. Es heißt nämlich in der Schrift: „Als der Knabe Jesus zwölf Jahre alt war, blieb er in Jerusalem.“14 Gleich darauf heißt es, die Eltern suchten ihn und „sie fanden ihn im Tempel, wie er unter den Lehrern saß und ihnen zuhörte und sie befragte.“15 Sehr zu beachten ist, daß es von dem zwölfjährigen Jesus heißt, er sei gefunden worden in Mitte der Lehrer, aber nicht lehrend, sondern fragend. Durch dieses Beispiel wird darauf hingewiesen, daß kein Schwacher zu lehren wagen soll, wenn dieser Knabe durch Fragen Belehrung suchte, der durch seine göttliche Macht den Lehrern selbst die Wissenschaft verlieh. Wenn aber Paulus seinem Schüler S. 217 sagt: „Dies schreibe vor und lehre; niemand mißachte deine Jugend“,16 so müssen wir wissen, daß in der Hl. Schrift das Jünglingsalter bisweilen Jugend17 genannt wird. Dies sehen wir sofort, wenn wir die Worte Salomons anführen: „Freue dich, Jüngling, in deiner Jugend!“18 Denn wenn er nicht beides für eines hielte, würde er nicht den einen Jüngling nennen, dem er Mahnungen für die Jugendzeit erteilt.
-
Sir. 20, 32. ↩
-
Sprichw. 11, 26. ↩
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Jer. 48, 10. ↩
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Deut. 32, 42. ↩
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Apg. 20, 26 f. ↩
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Offenb. 22, 17. ↩
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Is. 6, 5. ↩
-
Sprichw. 11, 25. ↩
-
Ps. 39, 10 f. ↩
-
Hohel. 8, 13. ↩
-
Exod. 32, 26 f. ↩
-
Luk. 24, 49. ↩
-
Sir. 32, 10 f. ↩
-
Luk. 2, 42 f. ↩
-
Ebd. 2, 46. ↩
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1 Tim. 4, 11 f. ↩
-
iuventus (Alter von 20 bis 40 Jahren) und adolescentia (Jugend bis zu 20 Jahren). ↩
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Pred. 11, 9. ↩