20. Die Bücher der Platoniker fördern seine Erkenntnis, aber auch seinen Hochmut.
Damals aber, als ich jene Bücher der Platoniker gelesen und in ihnen die Aufforderung gefunden hatte, die S. 155 Wahrheit außerhalb der Körperwelt zu suchen, ward mir „das Unsichtbare an dir aus den erschaffenen Dingen erkennbar“1 und sichtbar; doch schon wieder zurückgestoßen empfand ich, was ich bei der Finsternis meiner Seele noch nicht schauen durfte. Doch hatte ich die Gewissheit, daß du bist, daß du unendlich bist, wenn auch nicht ausgebreitet durch endliche und unendliche Räume, und daß du in Wahrheit bist, du, der immer Gleiche, in keinerlei Beziehung oder durch keinerlei Veränderung anders oder ein anderer, daß aber alles übrige aus dir ist, schon aus dem einen unumstößlichen Grunde, weil es ist. In diesen Punkten hatte ich Gewißheit, doch war ich noch allzu schwach, dich zu genießen. Ich schwatzte voller Sicherheit und als ob ich die Sache gründlich verstünde, und doch wäre ich, wenn ich nicht in Christus, unserem Erlöser, den Weg zu dir gesucht hätte, zugrunde gegangen, anstatt mir eine Kenntnis aus dem Grunde heraus zu erwerben. Denn, obschon mit Mühseligkeiten beladen, fing ich an, für einen Weisen gelten zu wollen; anstatt Tränen zu vergießen, ließ ich mich von meiner Wissenschaft immer mehr aufblähen. Wo war da jene Liebe, welche auf dem Grundsteine der Demut aufbaut, der da ist Jesus Christus? Oder wann hätten jene Bücher mich diese lehren können? Aber du ließest wohl absichtlich diese Bücher in meine Hände gelangen, bevor ich deine heiligen Schriften kennen lernte; dadurch sollte es meinem Gedächtnisse eingeprägt werden, wie starken Einfluß sie auf mich ausgeübt hatten. Und später, als ich durch deine Bücher gezähmt war und unter deinen heilenden Händen meine Wunden sich schlossen, sollte ich entscheiden und beurteilen, welch ein großer Unterschied zwischen hochmütiger Überhebung und demütigem Bekenntnisse sei, zwischen denen, welche zwar das Ziel sehen, aber nicht den Weg dazu, und dem Wege selbst, der zu jenem glückseligen Vaterlande hinführt, das man nicht nur schauen, sondern auch bewohnen soll. Denn wäre ich zuerst in deinen heiligen Schriften unterwiesen worden, so daß ich in vertrautem Umgange ihre Süßigkeit erfahren S. 156 hätte, und wäre ich erst später auf jene Bücher gestoßen, vielleicht hätten sie mich dann von der festen Grundlage des Heils losgerissen; oder wenn ich auch in derselben Richtung, die ich eingeschlagen hatte, verblieben wäre, so hätte ich vielleicht meinen können, man könne diese auch durch jene Bücher gewinnen, wenn jemand nur sie allein kenne.
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Röm. 1,20. ↩