15.
Ich behaupte also, die Beschneidung und die übrigen Vorschriften seien dem Volke im Alten Bunde von Gott gegeben worden als eine Weissagung zukünftiger Dinge, die durch Christus erfüllt werden mußte. Nachdem dies nun geschehen ist, müssen die Christen eifrig davon lesen, um die Erfüllung der vorausgegangenen Weissagung zu verstehen, nicht aber jene Dinge zu üben, als seien sie etwas Notwendiges oder als müsse man noch abwarten, daß die Offenbarung des Glaubens eintrete, die durch jene Dinge als zukünftig vorgebildet war. Obgleich indessen die Heiden hierzu nicht verpflichtet zu werden brauchten, so durften sie doch bei den Juden nicht in dem Maße außer Übung gesetzt werden, als wären sie etwas Verabscheuungswürdiges und Verdammliches. Durch die eifrige Predigt der Lehre von der Gnade Christi sollten sie erkennen, daß sie nur durch diese im Glauben gerechtfertigt und gerettet würden, nicht durch jene Vorbilder von Dingen, die früher zukünftig waren, damals aber sich verwirklichten und gegenwärtig waren; und so sollte allmählich und nach und nach jene ganze Ausübung dieser Vorbilder sich auflösen. Und so erging es auch bei der Berufung der Juden zur Zeit, da unser Herr im Fleische erschien, und zu den Zeiten der Apostel. Die diesen Gebräuchen schuldige Ehrfurcht wurde dadurch genügend gewahrt, daß sie nicht als etwas Verabscheuungswürdiges oder dem Götzendienste Ähnliches hingestellt wurden. Weiterhin aber sollten sie nicht fortgesetzt werden, damit es nicht scheine, als seien sie notwendig, oder damit man nicht glaube, das Heil komme von ihnen oder könne ohne sie nicht erlangt werden. Dieser Ansicht waren die Irrlehrer, die Juden und Christen zugleich sein wollten, aber eben deshalb weder Juden noch Christen sein konnten. S. 302 Obwohl ich ihrer Ansicht nie gehuldigt habe, so hast du doch die ganz besondere Freundlichkeit haben wollen mich zu ermahnen, ich möge mich doch vor ihr in acht nehmen. Des Petrus Schuld bestand ebenfalls nicht darin, dass er dieser Ansicht zustimmte, sondern sich aus Furchtsamkeit den Anschein gab, als teile er sie; und deshalb schrieb Paulus ganz richtig von ihm, daß er nicht gerade nach der Wahrheit des Evangeliums wandle, und sagte ihm ebenso richtig, daß er die Heiden zur Judensitte zwinge. Paulus hingegen tat dies nicht, wenn er jene alten Gebräuche, wo es notwendig war, in aller Wahrheit darum beobachtete, um zu zeigen, daß man sie nicht verdammen dürfe, hingegen aber eindringlich predigte, daß die Gläubigen nicht durch sie, sondern durch die geoffenbarte Gnade des Glaubens selig werden, um ja nicht jemanden zu zwingen, sich ihnen als einem notwendigen Heilsmittel zu unterziehen. So glaube ich also, daß der Apostel Paulus dies alles in ganz wahrhafter Weise getan hat, und doch zwinge ich jetzt keinen Christen, der früher Jude war, diese Gebräuche einzuhalten, ja ich gestatte es ihm nicht einmal. Ebenso zwingst auch du — obwohl du annimmst, daß Paulus sich hierbei nur verstellt habe — keinen Christen, der früher Jude war, diese Gebräuche zum Scheine zu üben, ja du gestattest es ihm nicht einmal.
