16.
Oder bist du etwa einverstanden, wenn ich behaupte, deine Erklärung oder vielmehr deine Ansicht gipfle darin, daß auch nach der Verkündigung des Evangeliums Christi die gläubig gewordenen Juden wohl daran tun, wenn sie Opfer darbringen, wie Paulus geopfert hat, ihre Kinder beschneiden, wie Paulus an Timotheus getan hat, und den Sabbat feiern, wie alle Juden tun, alles unter der Voraussetzung, daß sie es nur zum Scheine und verstellter Weise tun? Wenn dies der Fall ist, sieh, dann ist es nicht mehr die Irrlehre des Ebion1 oder der S. 303 sogenannten Nazarener2 oder sonst eine alte Irrlehre, in die wir verfallen, sondern eine neue, die um so gefährlicher ist, da sie nicht in einem Verstandesirrtum, sondern in verkehrter Willensrichtung ihren Grund hat. Um diese Ansicht dir nicht zuschieben zu lassen, wirst du antworten: die Apostel hätten damals sich in lobenswerter Weise verstellt, damit die Schwachen, das heißt die vielen Judenchristen kein Ärgernis nähmen, da sie noch nicht begriffen hätten, daß man diese Dinge verwerfen müsse; jetzt aber, nachdem die Lehre von der christlichen Gnade bei allen Völkern festbegründet und die Lesung des Gesetzes und der Propheten auch in allen Kirchen stehende Übung geworden sei und somit vernommen werde, wie diese Dinge richtig verstanden, nicht aber geübt werden müssen, jetzt also wäre es Wahnsinn, wenn jemand sich den Anschein geben wollte, als vollziehe er diese Gebräuche. Allein warum soll ich dann nicht behaupten dürfen, der Apostel Paulus und rechtgläubige Christen hätten damals jenen Geheimnissen des Alten Bundes durch gelegentliche Beobachtung in aller Wahrhaftigkeit ihre Ehrfurcht bezeugen müssen, damit man nicht glaube, jene vorbildlichen Übungen, die von den so gottesfürchtigen Vorfahren eingehalten worden waren, müßten von ihren Nachkommen als teuflischer Gottesraub verabscheut werden? Denn nachdem bereits der Glaube gekommen war, der durch jene Übungen vorherverkündet und nach dem Tode und der Auferstehung des Herrn geoffenbart wurde, hatten sie in bezug auf ihre Bedeutung gleichsam das Leben verloren. Darum mußten sie auch wie Leichname durch die Hände ihrer Angehörigen zum Grabe geleitet werden, und zwar nicht bloß zum Scheine, sondern in aller Ehrfurcht; man S. 304 durfte sie nicht sogleich aufgeben oder den Schmähungen der Feinde, gewissermaßen den Zähnen der Hunde preisgeben. Wenn aber jetzt irgendein Christ, mag er auch früher Jude gewesen sein, sie in gleicher Weise vornehmen wollte, so würde er gewissermaßen die Asche aus dem Grabe wühlen und wäre nicht ein frommer Begleiter oder Träger der Leichen, sondern ein ruchloser Verunehrer der Grabstätte.
Die Ebioniten, eine judenchristliche Sekte aus der ersten Zeit des Christentums, waren nach der Eroberung Jerusalems in der Gegend des Toten Meeres, wohin sie sich geflüchtet hatten, zurückgeblieben. Sie hielten streng die fortdauernde Verbindlichkeit des mosaischen Gesetzes fest und hielten Christus für einen bloßen, wenn auch durch Tugend ausgezeichneten Menschen und brandmarkten Paulus als Verräter am Gesetze. ↩
Eine mildere Richtung der Ebioniten, deren Anhänger seit Epiphanius Nazarener genannt werden und Christus als Messias und seine übernatürliche Empfängnis und Geburt aus Maria anerkannten. Beide Richtungen nahmen von den heiligen Schriften des Neuen Bundes nur ein Evangelium an, quod secundum Hebraeos dicitur. ↩
