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Was nun aber weiterhin die Liebe angeht, die nach dem Worte des Apostels größer ist als die beiden schon behandelten Tugenden1, nämlich als Glaube und Hoffnung, so richtet sich die Güte ihres Besitzers ganz nach dem Maße, in dem er sie besitzt. Fragt es sich einmal bei jemand, ob er überhaupt gut sei, so kommt es nicht darauf an, was er glaubt oder worauf er hofft, S. 498 sondern darauf, was er liebt. Denn wer die rechte Liebe hat, der hat zweifellos auch den rechten Glauben und die rechte Hoffnung. Wer aber die Liebe nicht hat, dessen Glaube ist nichtig, mag auch das, was er glaubt, die Wahrheit sein, und dessen Hoffnung ist nichtig, mag auch das, was er hofft, nach der Lehre (der Kirche) tatsächlich der wahren Glückseligkeit gelten; (dies ist nur dann nicht der Fall), wenn er auch das glaubt und hofft, was ihm, wenn er darum bittet, als Gegenstand seiner Liebe zuteil werden kann. Denn wenngleich er ohne Liebe auch keine Hoffnung haben kann, so kann er doch möglicherweise gerade das nicht lieben, was er lieben muß, um zum Inhalt seiner Hoffnung zu gelangen, z. B. wenn jemand das ewige Leben erhofft ― und wer möchte das nicht lieben? ―, dabei aber die Gerechtigkeit nicht liebt, ohne die niemand zum ewigen Leben gelangen kann. ― Und was den Glauben betrifft, so ist derjenige der vom Apostel empfohlene Glaube an Christus, der durch die Liebe wirksam ist2 und der das, was ihm an der Liebe noch fehlt, erbittet, auf daß er es empfange, sucht, auf daß er es finde, und der darum anklopft, auf daß ihm auf getan werde3. Denn der Glaube erlangt, was das Gesetz verlangt4. Denn ohne Gottes Gabe, d. h. ohne den Heiligen Geist, durch den die Liebe in unsere Herzen ausgegossen wird5, kann das Gesetz wohl gebieten, aber nicht helfen, und es kann überdies einen Übertreter (des Gesetzes) schaffen, der sich mit Unkenntnis des Gesetzes nicht entschuldigen kann. Denn dort ist die fleischliche Begierde Herr, wo die Gottesliebe nicht waltet.