19.
In manchen Fällen bedeutet also der Irrtum für uns einen großen, in manchen einen kleinen, wieder in anderen gar keinen Nachteil, in manchen sogar einen Nutzen. Ein großer Schaden ist der Irrtum für den Menschen dann, wenn er das nicht glaubt, was zum ewigen Leben, oder wenn er das glaubt, was zum ewigen Tod führt. Nur ein geringer Schaden ist der Irrtum für den Menschen, der etwas Unwahres für wahr annimmt und dadurch in einige zeitliche Unannehmlichkeiten gerät, die sich jedoch durch gläubige, geduldige Hinnahme zum Guten kehren lassen. So ist es S. 410 beispielsweise, wenn einer jemand für gut hält, der in Wirklichkeit schlecht ist und darum von ihm Böses erleiden muß. Wer aber einen schlechten Menschen zwar für gut hält, aber doch deshalb nichts Böses von ihm erleidet, der ist zwar im Irrtum, hat aber keinen Schaden dabei; ihn trifft auch die Drohung des Propheten nicht: „Wehe denen, die das, was böse ist, gut nennen1!“ Denn dieser Ausspruch ist von dem zu verstehen, was die Menschen böse macht, nicht von den Menschen selbst. Darum wird (z. B.) durch das Wort des Propheten mit Recht der verurteilt, der den Ehebruch gut nennt. Wer aber einen Mann gut nennt, den er für keusch hält und von dessen Ehebruch er nichts weiß, der irrt nicht in dem Wissen von dem, was gut oder böse ist, sondern nur in bezug auf die Geheimnisse menschlicher Sittlichkeit, wenn er einen solchen Menschen gut nennt, den er im Besitz dessen glaubt, was ihm ohne Zweifel gut erscheint. Denn einen Ehebrecher bezeichnet er ja als schlecht und einen keuschen Mann als gut; dabei nennt er nun freilich jenen (ehebrecherischen) Mann gut, weil er eben nicht weiß, daß er ein Ehebrecher und darum nicht keusch ist. Wenn ferner jemand dank eines Irrtums dem Verderben entrinnt, so wie es mir selber nach dem vorhin Erzählten auf einer Reise zugestoßen ist, so bringt der Irrtum dem Menschen sogar Nutzen. Allein wenn ich sage, manchmal könne man ohne Schaden, ja sogar mit einem gewissen Nutzen irren, so behaupte ich damit nicht, es sei der Irrtum selbst kein Übel oder vielleicht gar noch ein wenn auch nur geringes Gut; nein, sondern ich rede von einem Übel, das (bloß zufällig) nicht eintrifft oder von einem Gut, das (bloß zufällig) eintrifft, wenn man irrt, d. h. ich rede von etwas, was infolge des Irrtums entweder eintritt oder nicht eintritt. Denn der Irrtum an sich ist ein Übel, entweder ein großes, wo es sich um eine wichtige, oder ein kleines, wo es sich um eine unbedeutende Sache handelt. Denn wer möchte es außer im Irrtum als kein Übel ansehen, Falsches als wahr anzunehmen oder Wahres als falsch zu verwerfen oder S. 411 Ungewisses für gewiß oder Gewisses für ungewiß zu halten? Allein es besteht ein Unterschied, ob man jemanden für einen guten Menschen hält, der in Wirklichkeit ein Bösewicht ist, was ein Irrtum wäre, oder ob man infolge dieses Irrtums bloß kein weiteres Übel erleiden muß, weil der böse Mensch, den man für gut hält, gerade keinen Schaden verursacht. Desgleichen besteht darin ein Unterschied, ob man einen Weg für den rechten hält, der es doch in Wirklichkeit nicht ist, oder ob man aus diesem Übel, dem Irrtum, auch noch einen Nutzen zieht, wenn man z. B. dadurch vor den Nachstellungen böser Menschen bewahrt wird.
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Is. 5, 20. ↩