76.
Wer nämlich in geordneter Weise Almosen geben will, muß bei sich selbst den Anfang machen und solches zuerst sich selbst geben. Almosengeben ist nämlich ein Werk der Barmherzigkeit, und ganz wahr ist es auch, wenn es heißt: „Erbarme dich deiner Seele und du wirst Gott gefallen1.“ Um Gott zu gefallen, werden wir wiedergeboren, dem mit Recht die Sünde mißfällt, die wir uns durch die Geburt zugezogen haben. Dies ist das erste Almosen, das wir uns gegeben haben, daß wir uns selbst in unserem Elend durch die Erbarmung des barmherzigen Gottes aufgesucht haben; denn wir haben sein Urteil als recht anerkannt, durch das wir elend geworden sind und von dem der Apostel sagt: „Wegen der einen Sünde (Adams) lautet sein Urteil auf Verdammnis2“; und wir haben auch seiner großen Liebe gedankt, von der wiederum jener Herold der Gnade (der heilige Paulus) sagt: „Es bewährt aber Gott seine Liebe zu uns darin, daß, trotzdem wir noch Sünder waren, Christus für uns gestorben ist3.“ Wir sollen nämlich auch selbst über unser Elend ein wahres Urteil fällen und Gott mit der Liebe, die er uns selbst eingegossen hat, lieben und demgemäß fromm und gerecht S. 463 leben. Die Pharisäer nun kümmerten sich um ein solches Urteil und um eine solche Liebe nicht; sie bestimmten zwar den Zehnten sogar von den geringsten Feldfrüchten4 zu ihrem Almosen, sie fingen aber bei ihrem Almosengeben nicht bei sich selbst an und übten nicht zuerst an sich selbst Barmherzigkeit. Mit Rücksicht auf jene rechte Ordnung der Liebe heißt es: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst5.“ Nachdem also Christus die Pharisäer getadelt hatte, weil sie sich bloß äußerlich wuschen, innerlich aber voll Raub und Schlechtigkeit waren, belehrte er sie zuerst darüber, daß das Innere durch eine Art Almosen gereinigt werde, das der Mensch vor allen Dingen sich selbst schulde: „Was aber übrig ist, das gebt als Almosen, und alles ist euch rein6.“ Um ihnen aber dann zu zeigen, was er mit dieser Lehre wolle, worum sie sich selbst aber nicht kümmerten, und damit sie nicht glaubten, er kenne ihr Almosen nicht, sprach er das Fluchwort: „Wehe euch, ihr Pharisäer7!“ Damit wollte er ihnen gleichsam sagen: „Ich habe euch nun zwar ermahnt, Almosen zu geben, auf daß euch dadurch alles rein werde. Aber wehe euch! Ihr verzehntet ja wohl die Minze und die Raute und alles Kraut8; diese Art eueres Almosens kenne ich gar gut und ihr dürft nicht glauben, ich wolle euch jetzt hierüber noch belehren; aber an dem Rechte und an der Liebe Gottes geht ihr vorbei9.“ Und doch wäre nur das wirklich ein Almosen, wodurch ihr von jeder inneren Befleckung rein werden könnt; dadurch würde euer Leib wirklich rein, den ihr wascht. Dieses Doppelte ist nämlich unter dem Worte „alles“ zu verstehen: das Innere und das Äußere. In diesem Sinne liest man an einer anderen Stelle: „Reinigt nur einmal, was inwendig ist, dann wird auch das, was auswendig ist, rein sein10!“ Damit nun aber die Pharisäer nicht meinen möchten, er habe damit das Almosen verworfen, das von den Früchten der Erde gespendet wird, sprach er zu ihnen: „Das eine hättet ihr tun, das andere aber S. 464 nicht lassen sollen11“; d. h. das Gericht und die Liebe Gottes hättet ihr im Auge behalten und dabei auch von den Früchten der Erde Almosen geben sollen.