23. Kapitel
41. Nachdem der Herr seine Jünger auf diese Weise gestärkt hatte, weilte er noch vierzig Tage lang unter ihnen1 und stieg dann vor ihren Augen in den Himmel auf.2 Und als fünfzig Tage seit seiner Auferstehung vergangen waren,3 schickte er ihnen, wie er verheißen hatte, den Heiligen Geist, der die Liebe in ihre Herzen ausgoß,4 damit sie ohne Belastung,5 S. 78 ja sogar mit Freude das Gesetz erfüllen könnten. Dieses Gesetz ist den Juden in Form der Zehn Gebote, dem sogenannten Dekalog, gegeben worden; diese wiederum werden zurückgeführt auf zwei Gebote: »Liebe Gott aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken, und liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« Daß nämlich an diesen zwei Geboten das ganze Gesetz und die Propheten hängen,6 sagte der Herr selber im Evangelium und machte es durch sein Beispiel deutlich. Denn auch für das Volk Israel vergingen seit dem Tag, an dem sie zum erstenmal in sinnbildlicher Weise das Paschafest feierten, indem sie ein Schaf schlachteten, es aßen und als Schutzzeichen für ihre Rettung die Türpfosten mit seinem Blut bezeichneten,7 seit diesem Tage also vergingen fünfzig Tage,8 und sie empfingen das Gesetz, das vom Finger Gottes geschrieben war,9 ein Ausdruck, womit, wie bereits gesagt, der Heilige Geist versinnbildlicht wird. In gleicher Weise wurde nun fünfzig Tage nach dem Leiden und der Auferstehung des Herrn, dem wahren Paschafest,10 der Heilige Geist selber den Jüngern gesandt. Er wies nicht mehr durch das Sinnbild der steinernen Tafeln auf die Härte ihres Herzens hin; vielmehr entstand, als sie in Jerusalem an einem Ort versammelt waren, vom Himmel her plötzlich ein Brausen, wie wenn ein gewaltiger Sturm daherführe, und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten, und die Jünger begannen so in Zungen zu reden, daß ein jeder, der zu ihnen gekommen war, seine eigene Sprache erkannte.11 In dieser Stadt kamen nämlich Juden aus dem ganzen Erdkreis, wo immer sie verstreut lebten, zusammen, und sie hatten die Sprachen der verschiedenen S. 79 Völker gelernt. Die Jünger aber verkündeten darauf voller Zuversicht Christus, und sie wirkten in seinem Namen viele Wunderzeichen.12 So berührte Petrus beim Vorbeigehen einen Toten mit seinem Schatten, und dieser stand wieder auf.13
42. Als aber die Juden sahen, daß im Namen dessen, den sie teils aus Haß, teils aus Verblendung gekreuzigt hatten,14 so große Wunderzeichen geschahen, da reizte das die einen zum Zorn, und sie verfolgten seine Verkünder, die Apostel; andere aber gerieten vielmehr in Staunen, daß nun gerade im Namen dessen so große Wunder geschahen, den sie verspottet hatten, weil sie meinten, ihn überwältigt und besiegt zu haben; und Tausende von Juden bekehrten sich voll Reue und glaubten an ihn.15 Jene ersehnten sich nun von Gott nicht mehr zeitliche Wohltaten und ein irdisches Reich, und sie erwarteten Christus, den verheißenen König, nicht mehr für das diesseitige Leben. Sie erkannten und liebten den nun in seiner unsterblichen Natur, der in seiner sterblichen Natur von ihnen und für sie so viel erduldet hat, der ihnen sämtliche Sünden vergeben hat, sogar das Vergießen seines eigenen Blutes, und der ihnen mit dem Beispiel seiner Auferstehung gezeigt hat, daß sie sich von ihm die Unsterblichkeit erhoffen und ersehnen dürfen. Daher töteten sie nun die irdischen Wünsche des alten Menschen in sich ab und begeisterten sich für das neue Leben im Geist; sie verkauften, wie der Herr es im Evangelium befohlen hatte,16 all ihren Besitz und legten den Erlös aus ihren Gütern den Aposteln zu Füßen, damit diese einem jeden soviel zuteilen könnten, wie er brauchte. Und sie lebten einträchtig in christlicher Liebe, und sie bezeichneten nichts als ihr Eigentum, sondern besaßen alles S. 80 gemeinsam und waren ein Herz und eine Seele auf Gott hin.17
Darauf erlitten auch sie von den fleischlich gesinnten Juden, ihren Mitbürgern dem Fleische nach, Verfolgung und wurden zerstreut,18 damit Christus durch ihre Zerstreuung noch weiterherum verkündigt werde und damit sie selber die Geduld ihres Herrn nachahmen könnten. Er, der sie sanftmütig ertragen hatte, verlangte nun von ihnen, daß sie sanftmütig werden und um seinetwillen geduldig leiden.
43. Unter den Verfolgern der Heiligen hatte sich auch der Apostel Paulus befunden, und dieser wütete besonders hart gegen die Christen.19 Nachdem er aber zum Glauben kam und Apostel wurde, erhielt er die Sendung, den Heidenvölkern das Evangelium zu verkünden;20 und dabei erduldete er für den christlichen Glauben noch Schlimmeres, als er ihm zuvor als Gegner angetan hatte.21 Bei allen Völkern aber, wo er das Evangelium aussäte, gründete er kirchliche Gemeinden; da es nun diesen Leuten, die aus dem Götzenkult zur Kirche kamen und für die Verehrung des einen Gottes noch unvorbereitet waren, nicht leicht fiel, all ihre Güter zu verkaufen oder zu verteilen und Gott zu dienen, wies sie Paulus nachdrücklich an, sie sollten Gaben spenden für die Armen unter den Heiligen, die es in den Gemeinden Judäas gab, welche christusgläubig geworden waren.22 So machte die Lehre des Apostels die einen gleichsam zu aktiven Kämpfern, die andern aber zu ersatzpflichtigen Provinzialen und fügte zwischen die beiden, gleichsam als Eckstein, Christus ein, so wie es durch den Propheten vorherverkündigt war 23. In ihm S. 81 sollten sich die beiden, die wie zwei Wände aus entgegengesetzter Richtung kommen, nämlich von den Juden und von den Heiden her, in brüderlicher Liebe verbinden. Später aber wurden die Verfolgungen, die sich von Seiten der ungläubigen Heiden gegen die Kirche Christi erhoben, noch grausamer und zahlreicher, und das Wort des Herrn ging von Tag zu Tag mehr in Erfüllung, der vorhersagte: »Siehe, ich schicke euch wie Schafe mitten unter die Wölfe.«24
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Vgl. Apg 1,3. ↩
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Vgl. Apg 1,9 f. ↩
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Vgl. Apg 2,1. ↩
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Vgl. Röm 5,5. ↩
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Vgl. 1 Joh 5,3. ↩
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Vgl. Mt 22,37-40. ↩
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Vgl. Ex 12,1 ff. ↩
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Vgl. Ex 19,1. ↩
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Vgl. Ex 31,18; siehe auch 35. Die Satzkonstruktion ist anakolytisch. ↩
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Vgl. 1 Kor 5,7. ↩
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Vgl. Apg 2,1 ff. ↩
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Vgl. Apg 2,43. ↩
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Vgl. Apg 5,15. ↩
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Vgl. Apg 2,17; Lk 23,34. ↩
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Vgl. Apg 2,37–41; 4,4. ↩
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Vgl. Mt 19,21; Lk 18,22; 12,33. ↩
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Vgl. Apg 2,42—47; 4,32-35. ↩
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Vgl. Apg 8,4. ↩
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Vgl. Apg 8,3; 9,1. ↩
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Vgl. Apg 9,3 ff. ↩
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Vgl. Apg 9,26. ↩
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Vgl. Apg 24,17; 1 Kor 16; Röm 15,26. ↩
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Vgl. Apg 4,11; Eph 4,20; Jes 28,16. ↩
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Mt 10,16; Lk 10,3. ↩