2.
Man tadelt mich von gewisser Seite, daß ich in meinen Schriften gegen Jovinian im Lobe der Jungfräulichkeit und in der Verächtlichmachung der Ehe zu weit gegangen sei. Man behauptet, es liege gewissermaßen eine Verurteilung der Ehe vor, wenn die Keuschheit so verherrlicht wird, daß sich eine Gattin kaum mehr neben einer Jungfrau sehen lassen kann. Wenn ich mich der Problemstellung richtig entsinne, so bestand die Meinungsverschiedenheit zwischen Jovinian und mir in folgendem: Er hat die Ehe der Jungfräulichkeit S. b152 gleichgesetzt; ich schätze sie geringer ein. Jovinian will zwischen beiden keinen oder nur einen kleinen Unterschied gelten lassen; für mich ist der Unterschied groß. Schließlich ist Jovinian dafür auf Dein Betreiben nächst Gott verurteilt worden, daß er es gewagt hat, die Ehe der dauernden Jungfrauschaft gleichzustellen. Wenn Jungfrau und verheiratete Frau im Werte gleich stehen, wie konnte sich dann Rom so sehr entrüsten über die lästerliche Behauptung: „Maria ist Jungfrau, insofern sie unberührt vom Manne blieb; sie ist es nicht mehr, seitdem sie geboren hat.“ 1 Einen Mittelweg gibt es nicht. Entweder besteht meine Auffassung zu Recht S. b153 oder die Jovinians. Wenn man mich tadelt, daß ich die Jungfräulichkeit über den Ehestand stelle, so verdient er dafür gelobt zu werden, daß er beide gleichsetzt. Nachdem er aber wegen dieser Gleichsetzung verurteilt worden ist, so bedeutet diese Verurteilung eine Rechtfertigung meiner Ansicht. Wenn die Weltleute daran sich stoßen, daß ihr Stand geringer sein soll als der jungfräuliche, so habe ich dafür Verständnis. Wundern muß ich mich aber darüber, daß Geistliche, Mönche und solche, welche enthaltsam leben, sich nicht für den Stand einsetzen, den sie gewählt haben. Sie verzichten auf die Ehe, um die Keuschheit zu üben wie die Jungfrauen, und nun wollen sie, daß verheiratet und jungfräulich gleich zu werten sei? Dann sollen sie sich wieder mit ihren Gattinnen vereinigen, denen sie entsagt haben. Leben sie aber fernerhin enthaltsam, dann geben sie doch stillschweigend durch ihr Verhalten zu, daß sie etwas Kostbareres gegen die Ehe eingetauscht haben. Bin ich denn so unerfahren in der Schrift, oder lese ich zum ersten Male die heiligen Bücher, daß ich die Grenze oder, um mich einmal so auszudrücken, den dünnen Faden zwischen Jungfräulichkeit und Ehe nicht mehr erkennen kann? Offenbar war mir die Schriftstelle: „Wolle nicht allzu gerecht sein“ 2 unbekannt. Ich habe die eine Seite geschützt und bin an der anderen verwundet worden. Um deutlicher zu werden: Während ich festen Fußes gegen Jovinian kämpfte, habe ich mich hinterrücks von den Manichäern erdolchen lassen. 3 Ich bitte Dich, habe ich nicht gleich zu Eingang meines Werkes auf Folgendes aufmerksam gemacht: „Ich verteidige keineswegs die Auffassungen des Marcion 4 und der Manichäer, wenn ich die Ehe geringer einschätze. S. b154 Ich lasse mich nicht einfangen vom Irrtum des Tatian, 5 des Führers der Enkratiten, die jeden ehelichen Verkehr für gemein halten. Dieser verwirft nicht nur die Ehe, sondern auch die Speisen, die Gott erschaffen hat, damit wir uns ihrer bedienen. Ich weiß, daß in einem großen Haushalte nicht nur goldene und silberne Gefäße in Gebrauch sind, sondern auch hölzerne und irdene. 6 Und auf dem Fundamente Christi, das Paulus als Baumeister gelegt hat, baute der eine Gold, Silber und Edelsteine weiter, ein anderer hingegen Heu, Holz und Stroh. 7 Ich weiß, daß die Ehe eine ehrbare Sache und das Ehebett rein von jeder Makel ist. 8 Lesen wir doch als ersten Ausspruch Gottes: Wachset und mehret euch und erfüllet die Erde! 9 Aber ich stelle mich zur Ehe so ein, daß ich die Jungfräulichkeit, welche die Ehe zur Voraussetzung hat, vorziehe. Bleibt das Silber etwa deshalb kein Silber, weil das Gold kostbarer ist als Silber? Liegt eine Geringschätzung des Baumes oder des Samens darin, daß ich die Früchte und die Körner der Wurzel und den Blättern, dem Halm und den Grannen vorziehe? Wie das Obst aus dem Baume und das Getreide aus dem Halme, so geht die Jungfräulichkeit aus der Ehe hervor. Es gibt hundert-, sechzig- und dreißigfältige Frucht. 10 Mag auch der Boden gleich und die Art des Samens dieselbe sein, so gibt es doch in der Zahl gewaltige Unterschiede. Die Zahl 30 bezieht sich auf die Ehe; denn die Stellung der Finger, will man die Zahl 30 ausdrücken, weist durch die zärtliche Verbindung auf das Verhältnis zwischen Gatte und Gattin hin. Die Zahl 60 geht auf die Witwen, die in Not und Sorge leben. Sie werden durch den oberen Finger bedrückt. Je schwerer es nämlich ist, sich von S. b155 den einstigen Freuden und Genüssen zu enthalten, desto größer wird auch der Lohn sein. Bei der Zahl 100, 11 ich bitte, genau darauf zu achten, geht man von der Linken zur Rechten und macht mit denselben Fingern, aber nicht mit der gleichen Hand, mit denen man an der Linken den Ehe- und den Witwenstand andeutete, einen Kreis, um damit die Krone der Jungfräulichkeit zu versinnbilden.“ 12
Der Schwierigkeit dieser Stelle gingen Vallarsi-Migne aus dem Wege, indem sie sich für die offenbar zurechtgemachte Lesung: „Virgo a viro, non vir a virgine generatur“, die nichtssagend ist und auch nicht in den Zusammenhang paßt, entschieden. Hilberg dürfte den ursprünglichen Text wiederhergestellt haben, hat aber, der Zeichensetzung nach zu urteilen, den Sinn auch nicht richtig erfaßt. Er bezieht offensichtlich die Worte „piaculum huius vocis“ auf den vorangehenden Satz „si id ipsum virgo putatur et nupta“. Wenn die Worte: „Virgo a viro, non virgo a partu“ kein Fremdkörper sein und überhaupt hier einen Sinn haben sollen, dann sind sie eben das „piaculum huius vocis“. Nach Mitteilung von Professor Martin (Würzburg) dürfte es mit dem verurteilten Satze folgende Bewandtnis haben. Es handelt sich um eine Behauptung Jovinians oder eines seiner Anhänger über Maria, welche zu Rom verurteilt wurde. Allerdings erwähnt Hieronymus weder in seinem Buche gegen Helvidius noch in seiner Schrift gegen Jovinian einen solchen Satz. Doch wäre dies verständlich, weil er an der Lehre Jovinians nur insoweit interessiert ist, als sie sein Mönchsideal berührt. Es wäre auch denkbar, daß Hieronymus erst durch den Brief des Pammachius, der ja an der Verurteilung Jovinians hauptsächlich beteiligt war, von diesem Satz und seiner Verwerfung Kenntnis bekommen hat. Dagegen wissen wir aus Ambrosius, daß in Mailand tatsächlich ein Satz Jovinians über Maria verurteilt worden ist. Im Bau übereinstimmend (Antithese), wenn auch mit anderen Worten, findet sich da unser Satz wieder: Sed de via perversitatis produntur dicere: virgo concepit, sed non virgo generavit“ (vgl. Ambr., Ep. 42, 4 — M PL XVI 1125). Jovinian hätte also die virginitas in partu und post partum geleugnet. ↩
Eccle. 7, 17. ↩
Die Manichäer verwarfen die Ehe. ↩
Der Gnostiker Marcion (2. Jahrhundert) vertrat ein dualistisches System und verwarf die Materie als schlecht. Deshalb erklärte er die Ehe als sündhaft und verlangte allgemein den Zölibat. ↩
Tatian (2. Jahrhundert), der angebliche Begründer der Enkratiten, nannte die Ehe eine verderbliche Buhlerei (vgl. Irenäus, Adv. haer. I 28, 1; BKV Iren. I 80 f.). ↩
2 Tim. 2, 20. ↩
1 Kor. 3, 10. 12. ↩
Hebr. 13, 4. ↩
Gen. 1, 28. ↩
Matth. 13, 8. ↩
Wiederholt berichtet Hieronymus von der Sitte, gewisse Zahlen durch die Stellung der Finger auszudrucken (vgl. auch Juvenal, Sat. 10, 249). ↩
Adv. Jov. I 3. ↩
