20. Die Langmut Gottes.
Wenn Gott verzeihen kann, so kann er auch zürnen. „Warum sind dann“, so wird man fragen, „die Sünder oft glücklich und die Frommen oft elend?“ Weil auch entlaufene Sklaven und verstoßene Söhne ungebunden leben, während das Leben der unter der Zucht des Vaters oder Herrn stehenden mehr an Schranke und Ordnung gebunden ist. Die Tugend wird durch Leiden bewährt und befestigt, das Laster erstarkt durch S. 117 Vergnügen. Doch darf der Sünder nicht immerwährende Ungestraftheit erwarten, denn es gibt kein immerwährendes Glück, sondern:
„.... immer müssen die Menschen
Harren des letzten Tags, und niemand darf vor dem Hingang
Glücklich gepriesen werden, und vor dem letzten Geleite“1,
wie ein nicht der Anmut ermangelnder Dichter sagt. Der Ausgang ist es, der über das Glück entscheidet, und niemand kann dem Gerichte Gottes weder im Leben noch im Tode entfliehen. Gott hat die Macht, sowohl die Lebenden von der Höhe herabzustürzen, als auch über die Verstorbenen ewige Qualen zu verhängen.
„Im Gegenteil“, erwidert man, „wenn Gott zürnt, so sollte er sogleich einschreiten und jeden nach Verdienst strafen.“ Würde Gott dieses tun, so wäre bald niemand mehr übrig; denn es gibt niemand, der gänzlich ohne Fehler ist; und vieles gibt es, was zum Sündigen reizt, wie Jugend, Trunkenheit, Dürftigkeit, Gelegenheit, Gewinn. So sehr ist die Gebrechlichkeit des Fleisches, mit dem wir umkleidet sind, der Sünde ausgesetzt, daß Gott dieser Unvermeidlichkeit Rechnung tragen muß; denn sonst würden vielleicht allzu wenige am Leben bleiben; aus diesem Grunde ist Gott sehr langmütig und hält seinen Zorn zurück. Denn weil in Gott vollkommene Tugend ist, so muß auch seine Geduld vollkommen sein; denn auch sie ist eine Tugend. Wie viele sind später aus Sündern Gerechte geworden, wie viele aus Bösen gut, wie viele aus Unzüchtigen enthaltsam! Wie viele haben sich in der ersten Jugend durch schimpfliches Leben die allgemeine Verurteilung zugezogen und sind nachher preiswürdig geworden! Das wäre ausgeschlossen, wenn jeder Sünde sogleich die Strafe folgte. Die öffentlichen Gesetze verurteilen nur die Schuldigen, die überführt worden sind; aber bei vielen bleiben die Übertretungen verborgen; viele wissen die Angeber durch Bitten oder Belohnung zum Schweigen zu bringen; viele durch Gunst oder Macht die S. 118 Wirksamkeit der Gerichte zu vereiteln. Wenn nun all diese, die der menschlichen Strafe entgehen, vom göttlichen Richteramt verurteilt würden, so würden die Menschen bald spärlich werden auf Erden oder auch ganz verschwinden. Und außerdem hätte schon die eine Ursache zur Vernichtung des menschlichen Geschlechtes ausreichend sein können, daß die Menschen mit Hintansetzung des lebendigen Gottes irdischen und gebrechlichen Gebilden als himmlischen Wesen göttliche Ehre erweisen und Werke anbeten, die menschliche Kunstfertigkeit geschaffen hat. Und während der Schöpfer die Menschen mit erhabenem Antlitz und in aufrechter Stellung gebildet hat, während er sie zur Betrachtung des Himmels und zur Erkenntnis Gottes emporgerichtet hat, so wollen sie sich lieber zur Erde krümmen und nach Art der Tiere auf dem Boden kriechen. Denn zur Erde gekrümmt und nach abwärts gebeugt ist der Mensch, der sich vom Anblick des Himmels und Gottes seines Vaters abgewandt hat, und die Erde, die er hätte mit Füßen treten sollen, d. h. was aus Erde gebildet und gestaltet ist, göttlich verehrt. Bei solcher Undankbarkeit der Menschen und so großen Versündigungen erreicht die göttliche Langmut dieses Ziel, daß die Menschen sich selbst der Verirrungen des früheren Lebens anklagen und ihre Wege bessern. Endlich gibt es auch viele Gute und Gerechte, die den Dienst der irdischen Gebilde von sich weisen und die Majestät des einzigen Gottes erkennen. Obschon aber die Geduld Gottes sehr groß und sehr zweckdienlich ist, so straft er doch, wenn auch noch so spät, die Schuldigen und läßt sie im Bösen nicht weiter voranschreiten, nachdem er sie als unverbesserlich erkannt hat.
Ov. Metam. III 135—137. ↩
