Dritter Artikel. Zur moralischen Vollendung des Menschen tragen bei die von der Vernunft geregelten Leidenschaften.
a) Sie scheinen im Gegenteil immer die Güte des moralischen Aktes zu vermindern. Denn: I. Sie hindern in jedem Falle das Urteil der Vernunft, also ein zum moralischen Akte wesentliches Element. Sallust nämlich sagt (in principio orat. Caesaris): „Alle Menschen, welche über zweifelhafte Sachen ratschlagen, sollen frei sein von Haß, Zorn, Freundschaft und Barmherzigkeit.“ II. Der Mensch ist vollendeter, je ähnlicher er Gott ist; wie Paulus sagt (Ephes. 5.): „Seid die Nachfolger Gottes wie überaus teure Söhne.“ Gott aber und die Engel „strafen ohne Zorn, stehen bei ohne Mitgefühl“ wie Augustin schreibt. (9. de civ. Dei 5.) Also besser ist es, Ähnliches ohne Leidenschaft zu thun wie mit Leidenschaft. III. Das moralische Übel wird durch Leidenschaft vermindert; denn geringer ist die Schuld dessen, der aus Leidenschaft sündigt wie die desjenigen, der es aus kalter Überlegung thut. Also ein minderes Gute thut jener, der es mit Leidenschaft vollbringt, wie jener, der es ohne Leidenschaft thut; wird ja doch überhaupt die moralische Ordnung bemessen nach der Teilnahme an der Vernunft. Auf der anderen Seite sagt Augustm (9. de civ. Dei l. c.): „Die Leidenschaft der Barmherzigkeit dient der Vernunft; wann so Barmherzigkeit geübt wird, daß man Gerechtigkeit wahrt, sei es daß dem Bedürftigen etwas gegeben sei es daß dem Reuigen verziehen wird.“ Nichts aber, was der Vernunft dient, vermindert das moralisch Gute am Akte. Also.
b) Ich antworte; die Stoiker nahmen an, jede Leidenschaft vermindere das moralisch Gute, weil nach ihrer Ansicht jede Leidenschaft ein Übel war. Denn jegliches Gute wird durch Beimischung des Bösen gemindert oder ganz entfernt. Nennen wir aber „Leidenschaften“ nicht allein die ungeregelten Bewegungen jm sinnlichen Begehren, sondern vielmehr alle solche Bewegungen schlechthin; so gehört es zur Vollendung des menschlich Guten, daß auch solche Leidenschaften geregelt sind und ihr Maß erhalten durch die Vernunft. Denn da des Menschen Gut oder Vollendung in der Vernunft besteht wie in seiner Wurzel, so wird dieses Gut um so groher sein, je weiter es sich auf die Dinge erstreckt, die dem Menschen zukommen. Danach zweifelt niemand daran, daß es zur Vollendung des moralisch Guten gehört, die Thätigkeit der äußeren Glieder unter die Richtschnur der Vernunft zu bringen. Da also das sinnliche Begehren dem vernünftigen Gebote dienen kann, so ist es zur Vollendung des moralischen oder menschlichen Guten gehörig, daß auch die Leidenschaften selbst durch die Vernunft geregelt werden. Wie sonach es besser ist, daß der Mensch sowohl das Gute will als auch daß er mit den äußerlichen Organen wirklich es thut, so ist es eine Vollendung des moralisch Guten, daß der Mensch zum Guten hinbewegt wird nichtnur gemäß dem Willen, sondern auch gemäß dem sinnlichen Begehren, wie es Ps. 83. heißt: „Mein Herz und mein Fleisch haben gejubelt zum lebendigen Gott“, wo wir unter „Herz“ den geistig vernünftigen Willen verstehen und unter „Fleisch“ das sinnliche Begehren.
c) I. Die Leidenschaften können dem Urteile der Vernunft vorhergehen; — dann verdunkeln sie dasselbe und vermindern demgemäß den Charakter des guten Moralischen im Akte; denn es ist lobenswerter, daß jemand aus dem vernünftigen Urteile allein heraus ein Werk der Liebe vollbringt, wie wenn er es nur der Leidenschaft der sinnlichen Barmherzigkeit zufolge thut. Es kann aber die Leidenschaft auch nachfolgen und zwar entweder, weil der höhere geistige Teil der Seele so stark ist in der Thätigkeit des Guten, daß davon überfließt auf den niederen Teil; — und so ist die Leidenschaft des sinnlichen Teiles ein Zeichen der starken Bewegung zum Guten hin im höheren und zeigt eine höhere moralische Güte an. Oder die Leidenschaft kann nachfolgen, weil der Mensch kraft des vernünftigen Urteils die Wahl trifft, eine Leidenschaft in sich zu erwecken, damit er, wenn der sinnliche Teil ebenfalls in Thätigkeit ist, in dieser Weise schneller zum Ziele gelange; — und so fügt die Leidenschaft zum moralisch Guten hinzu. II. In Gott und den Engeln ist kein sinnliches Begehren und keine Thätigkeit körperlicher Glieder. Also fällt da die Regelung derselben durch die Vernunft fort. III. Die Leidenschaft zum Bösen hin, die dem Urteile der Vernunft vorhergeht, vermindert das moralisch Böse; folgt sie in den zwei genannten Weisen nach, so vermehrt sie dasselbe oder ist davon ein Zeichen.
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