Zweiter Artikel. Nicht jede Leidenschaft der Seele ist moralisch schlecht.
a) Dementgegen scheinen alle Leidenschaften der Seele moralisch schlecht zu sein. Denn: I. Augustin (9. de civ. Dei 4.) sagt: „Die Leidenschaften der Seele nennen manche Philosophen Krankheiten oder Verwirrungen der Seele.“ Jede Krankheit oder Verwirrung der Seele aber ist ein moralisches Übel. II. Damascenus (2 de orth. fide 22.) schreibt: „Thätigkeit ist eine Bewegung gemäß der Natur; Leidenschaft eine Bewegung, die von der Natur absieht.“ Was aber von der Richtschnur der Natur absieht, also außerhalb derselben ist, das ist Sünde oder moralisches Übel; wie Damascenus wieder schreibt (l. c. 4.): „Der Teufel ist von dem, was gemäß der Richtschnur der Natur ist, umgewandelt in das, was außerhalb der Natur sich findet.“ III. Was zur Sünde führt, ist vom Übel. Die Leidenschäften aber führen zur Sünde, weshalb Paulus sie (Röm. 7.): „passiones peccatorum“ nennt. Auf der anderen Seite sagt Augustin (14. de civ. Dei 9.): „Die rechte Liebe hat alle diese Hinneigungen als rechte; denn sie fürchten, zu sündigen; wünschen, beharrlich zu sein; sie haben Schmerz in den Sünden, freuen sich in guten Werken.“
b) Ich antworte, daß hier ein Streitpunkt ist zwischen den Stoikern, welche meinten, alle Leidenschaften seien moralisch schlecht; und den Peripatetikern, welche annahmen, gemäßigte und geregelte Leidenschaften seien gut. Der Unterschied zwischen beiden Teilen besteht mehr in Worten wie in der That. Denn die Stoiker unterschieden nicht zwischen dem Sinn und der Vernunft, und somit auch nicht zwischen sinnlichem Begehren und geistigem Wollen. Sonach unterschieden sie desgleichen nicht zwischen den Leidenschaften des sinnlichen Teiles und den einfachen Willensbewegungen. Vielmehr nannten sie jedes durch die Vernunft geregelte Streben „Willen“; und als „Leidenschaften“ bezeichneten sie alles Begehren, was in den Grenzen der Vernunft nicht eingeschlossen ist. Und deshalb nennt Cicero, gemäß ihnen (3. Tuscul. q.), die Leidenschaften der Seele Krankheiten. Die Peripatetiker aber nannten alle Bewegungen im sinnlichen Streben „Leidenschaften“; und bezeichneten jene als gute, welche der Vernunft folgen; und jene als schlechte, welche der Regelung seitens der Vernunft nicht unterliegen. Cicero also tadelt mit Unrecht die Peripatetiker, als ob sie sagten, ein mäßiges Übel sei zu billigen, denn auch die kleinste Krankheit sei eben eine Krankheit und demnach zu meiden; — da ja die Peripatetiker durch Vernunft gemäßigte Leidenschaften gar nicht für Krankheiten der Seele ansahen.
c) I. ist damit beantwortet. II. Bei jeder Leidenschaft wird hinzugefügt zur natürlichen Bewegung des Herzens oder dieselbe gemindert, insofern es sich heftiger oder nachlässiger zusammenzieht und ausdehnt; — und demgemäß ist die Leidenschaft außerhalb des der Natur Geschuldeten. Jedoch ist die Leidenschaft nicht immer und ganz und gar abweichend von dem mit der Natur Gegebenen. III. Leidenschaften, welche und insoweit sie außerhalb der mit der Natur gegebenen Ordnung stehen, führen und neigen hin zur Sünde. Unter der Regelung der Vernunft führen sie zur Tugend.
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