Vierter Artikel. Über das Gute oder Böse in den Leidenschaften gemäß ihrer Gattung.
a) Keine Leidenschaft ist ihrer Gattung nach gut oder böse im moralischen Sinne. Denn: I. Das moralisch Gute und Böse wird gemäß der Vernunft bemessen. Die Leidenschaften aber sind im sinnlichen Begehren: und daß sie gemäß der Vernunft sind, tritt bloß von seiten der im Menschen naturgemäß mit ihnen verbundenen Vernunft hinzu. Nichts aber, was in dieser Weise von außen her hinzutritt (per accidens), stellt die Wesensgattung eines Dinges her oder gehört zur selben. Also keine Leidenschaft ist in ihrer Gattung gut oder böse. II. Thätigkeiten und Leidenschaften haben ihre Gattung vom Gegenstande her. Also müßten jene Leidenschaften, deren Gegenstand das Gute ist, gut sein gemäß ihrer Gattung, wie Liebe, Verlangen, Freude; sollen überhaupt Leidenschaften ihrer Gattung nach gut sein; — und jene, deren Gegenstand ein Übel ist, wie Haß, Furcht, Trauer, müßten ihrer Gattung nach moralisch böse sein; was offenbar falsch ist. Also keine Leidenschaft ist infolge ihrer Gattung, für sich allein, moralisch gut oder böse. III. Keine Gattung Leidenschaften giebt es, die nicht in einzelnen Tieren gefunden würde. Das moralisch Gute ist aber nur im Menschen. Also von der Gattung aus ist keine Leidenschaft moralisch gut oder böse. Auf der anderen Seite sagt Augustin (11. de civ. Dei 5.): „DieBarmherzigkeit gehört zur Tugend;“ und Aristoteles (2 Ethic. 7.): „Die Schamhaftigkeit ist eine lobenswerte Leidenschaft.“
b) Ich antworte, gleichwie von den Thätigkeiten (Kap. 18, Art. 6 u. 7), so kann auch von den Leidenschaften mit Rücksicht auf ihre Gattung, in doppelter Weise gesprochen werden: einmal, soweit die Thätigkeit oder Leidenschaft im Bereiche der reinen Natur zu einer Seinsart gehört;, und so findet sich das moralisch Gute oder Böse nicht in der Gattung der Thätigkeiten oder Leidenschaften; — dann, insoweit Thätigkeit und Leidenschaft zur Art des Sittlichen, Moralischen (ad genus moris) gehört, nämlich insoweit beide teilnehmen am Freiwilligen und am Urteile der Vernunft; und so kann in der Gattung der Leidenschaft bereits das moralisch Gute oder Böse gefunden werden, insofern als Gegenstand der Leidenschaft etwas der Ordnung der Vernunft an sich Entsprechendes oder davon Abweichendes genommen wird. So ist dies z. B. offenbar bei der Schamhaftigkeit, die da ist „Furcht vor dem Unanständigen“; und bei dem Neide, der da ist „Trauer über das Gute, was der andere hat.“ Auf diese Weise also findet sich das moralisch Gute und Böse bereits in der Gattung der Leidenschaften.
c) I. Wir sprechen nicht vom Bereiche der reinen Natur, von der species naturae, insofern nämlich das sinnliche Begehren an sich betrachtet wird. Hier ist die Rede vom sinnlichen Begehren, insoweit es der Bestimmung der Vernunft unterliegt; und da ist das Gute und Böse, wie es die Vernunft erkennt, nichts zu den Leidenschaften von außen her Hinzutretendes, sondern ist in den Leidenschaften an sich betrachtet. II. Leidenschaften, die auf das Gute gerichtet sind, nämlich auf das wahre Gute, sind gut; und ebenso jene, welche vom wahren Übel sich entfernen. Umgekehrt sind Leidenschaften böse, die auf das Übel sich richten oder vom wahren Guten entfernen. III. In den Tieren gehorcht der Sinn nicht der Vernunft. Trotzdem aber findet sich, insoweit das Tier von einer gewissen natürlichen Abschätzungskraft geführt wird, welche der höheren Vernunft, nämlich der göttlichen, unterworfen ist, auch in ihnen, mit Rücksicht auf die Leidenschaften der Seele, eine gewisse Ähnlichkeit des moralisch Guten.
