Zweiter Artikel. Die Kühnheit folgt der Hoffnung.
a) Dementgegen scheint zu sein: I. 3 Ethic. 7. bei Aristoteles, wonach die Kühnheit zum Gegenstande hat das Böse und Schreckvolle. Die Hoffnung aber ist auf das Gute gerichtet. Also haben die Hoffnung und die Kühnheit je verschiedene Gegenstände und kann sonach der Hoffnung nicht die Kühnheit folgen. II. Wie die Kühnheit der Furcht entgegen ist, so die Verzweiflung der Hoffnung. Die Furcht aber folgt nicht der Verzweiflung; also auch nicht der Hoffnung die Kühnheit. III. Die Kühnheit richtet sich auf ein schwieriges Gut, nämlich den Sieg. Das ist aber eigen der Hoffnung. Also Kühnheit ist gleichbedeutend mit Hoffnung. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (3 Ethic. 8.): „Die viele Hoffnung haben, sind kühn.“ Also scheint die Kühnheit der Hoffnung zu folgen.
b) Ich antworte, alle Bewegung im Begehren läßt sich zurückführen auf das Verfolgen oder auf die Flucht. Verfolgen aber etwas oder Fliehen vor etwas kann entweder auf Grund des inneren Wesens, per se, aufgefaßt werden; oder auf Grund eines äußerlichen Umstandes, per accidens. Das Gute wird verfolgt auf Grund seines inneren Wesens; und ebenso, per se, das Böse geflohen. Auf Grund eines äußerlichen Umstandes aber kann es geschehen, daß das Böse verfolgt wird, weil nämlich etwas Gutes damit verbunden ist; und ebenso kann, per accidens, das Gute geflohen werden, weil damit ein Übel verbunden ist. Was aber so per accidens d. h. nebensächlich ist, das folgt dem, was per se, d. h. der Richtschnur des inneren Wesens nach besteht. Und sonach folgt dies, daß man sich auf das Übel hin richtet, dem, daß man sich auf das Gute als das Erstrebenswerte richtet; — und die Flucht vor dem Guten folgt der vor dem Übel. Nun gehören diese vier Dinge zu den vier Leidenschaften: Das Verfolgen des Guten gehört der Hoffnung an, die Flucht vor dem Übel der Furcht; daß man auf ein schreckvolles Übel sich richtet, das ist Kühnheit; und daß man ein Gut flieht, ist Verzweiflung. Also folgt die Kühnheit der Hoffnung; weil nämlich jemand ein drohendes schreckvolles Übel zu überwinden hofft, deshalb geht er kühn darauf los. Der Furcht aber folgt die Verzweiflung. Denn deshalb verzweifelt jemand, weil er die Schwierigkeit, die mit dem gehofften Gute verknüpft ist, fürchtet.
c) I. Gut und Böse sind Gegenstände, die zu einander Beziehung haben. Weil aber das Böse als Mangel am Guten später ist als das Gute; deshalb ist die Kühnheit, die auf das Böse losgeht, später als die Hoffnung, die auf das Gute sich richtet. II. Freilich ist das Gute an sich früher als das Böse. Aber die Flucht berücksichtigt zuerst das Böse und auf Grund dessen erst das Gute. Und wie deshalb die Hoffnung früher ist wie die Kühnheit, so ist die Furcht früher wie die Verzweiflung; und wie aus der Furcht nicht immer die Verzweiflung folgt, sondern nur wann die Furcht sehr groß ist; so folgt nur der stark erregten Hoffnung die Kühnheit. III. Dem Übel, auf das die Kühnheit losgeht, ist freilich etwas Gutes beigemischt, nämlich das Gut des Sieges nach der Ansicht des Kühnen; jedoch ist der Gegenstand der Kühnheit trotzdem schlechthin das Übel und das Gute, was beigemischt ist, ist Gegenstand der Hoffnung. Und ähnlich richtet sich die Verzweiflung direkt auf das Gute; das beigemischte Übel ist Gegenstand der Furcht. Also ist die Kühnheit vielmehr eigentlich eine Wirkung der Hoffnung als ein Teil derselben; und die Verzweiflung ist eben so nicht ein Teil der Furcht, sondern deren Wirkung. Und deshalb kann die Kühnheit keine der Hauptleidenschaften sein.
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