Fünfter Artikel. Das Verhältnis des Zornes zur bloßen Natur.
a) Es scheint, der Zorn sei nicht in höherem Grade natürlich wie die Begierlichkeit. Denn: I. Dem Menschen ist es eigen, ein „sanftmütiges, sinnbegabtes Wesen“ zu sein. Der Sanftmut aber steht entgegen der Zorn. (2 Rhet. 3.) II. Wir thun das gemäß der Vernunft, sagen wir, was wir nicht gemäß der bloßen Natur thun. Der Zorn aber ist mit der Vernunft, die Begierlichkeit jedoch ohne Vernunft. (7 Ethic. 6.) Also ist der Zorn natürlicher, er ist der Natur angemessener wie die Begierlichkeit. III. Der Zorn ist das Begehren nach Rache. Die Begierlichkeit aber ist im höchsten Grade das Begehren nach Ergötzlichkeiten des Tastsinnes, wie nach Speise und Trank und nach Genugthuung des Geschlechtstriebes. Dies aber ist natürlicher dem Menschen wie die Rache. Auf der anderen Seite steht die Autorität des Aristoteles (7 Ethic. 6.)
b) Ich antworte, „natürlich“ wird etwas genannt, insoweit es verursacht wird von der Natur. (2 Physic.) Ob also die eine Leidenschaft natürlicher sei wie die andere, das kann nur aus der betreffenden Ursache ermessen werden. Nun ist eine Ursache für die Leidenschaft auf seiten des Gegenstandes; eine andere aber auf seiten des Subjekts, des Begehrenden. Vom Gegenstande her ist die Begierlichkeit, und zumal die nach Speise und Geschlechtlichem, natürlicher wie der Zorn; denn diese Gegenstände entsprechen mehr der Natur des Menschen wie die Rache. Von seiten des Subjektes, des Begehrenden, aber her ist natürlicher der Zorn wie die Begierlichkeit in einer Beziehung; und in anderer Beziehung ist das Gegenteil der Fall. Denn wird im Menschen die Natur seiner „Art“, des Sinnbegabten betrachtet, so ist auch hier die Begierlichkeit, welche durch Begehren nach Speise und Fortpflanzung zur Erhaltung der Natur beiträgt, natürlicher wie der Zorn. Wird aber die Natur der besonderen Gattung im Menschen beachtet, also seine Vernunft, so ist der Zorn natürlicher wie die Begierlichleit; denn ersterer besteht mit der Vernunft, letztere aber, zumal wenn das geschlechtliche Zusammenleben in Betracht kommt, nicht. So sagt in diesem Sinne Aristoteles: „Es ist dem Menschen mehr angemessen, zu strafen, wie sanftmütig zu sein;“ denn jegliches Wesen steht von Natur gegen Schädliches und Verderbliches auf. Wird aber der einzelne Mensch als einzelner betrachtet gemäß der eigenen Komplexion, so ist der Zorn natürlicher wie die Begierlichkeit. Denn der natürlichen Beziehung zum Zürnen, die aus der Komplexion kommt, folgt mit größerer Leichtigkeit der Zorn wie die Begierlichkeit oder eine andere Leidenschaft. Der Mensch ist nämlich in der Verfassung zum Zürnen, insoweit er eine cholerische Komplexion hat; die cholerische Feuchtigkeit aber ist unter allen anderen derartigen humores schneller in Bewegung gesetzt, sie ist dem Feuer ähnlich. Deshalb ist, wer in seiner natürlichen Verfassung die Neigung zum Zorne hat, leichter im Zorne, wie jener, der in seiner natürlichen Verfassung die Neigung zur Begierlichleit hat, der Begierde folgt. Demgemäß sagt Aristoteles (7 Ethic. 6.): „Der Zorn wirdin höherem Grade von den Eltern in die Kinder fortgepflanzt wie die Begierlichkeit.
c) I. Die natürliche Komplexion sowohl kann im Menschen erwogen werden von seiten des Körpers als durch das ihr innewohnende Maß hervorragend; wie auch die Vernunft. Von seiten seiner körperlichen Komplexion ragt im Menschen, in seiner Gattung betrachtet, keine Leidenschaft in besonderem Maße hervor; weder der Zorn noch die Begierlichkeit. Die anderen sinnbegabten Wesen aber, die Tiere, weichen ab von diesem Maßvollen im Gemische der humores beim Menschen seiner Gattung nach; sie sind ihrer Natur selber, also ihrer Gattung gemäß, von vornherein für eine besondere Leidenschaft gemacht; so der Löwe für die Kühnheit, der Hund für den Zorn, der Hase für die Furcht u. s. w. Von seiten der Vernunft aber ist es dem Menschen natürlich, sowohl zu zürnen als sanftmütig zu sein; je nachdem die Vernunft gewissermaßen den Zorn hervorruft, indem sie die Ursache des Zornes anzeigt; und gewissermaßen den Zorn besänftigt, inwieweit der Zornige nicht ganz und gar hört, was die Vernunft kündet. II. Die Vernunft selber gehört zur Natur des Menschen. Der Zorn aber ist mit der Vernunft. III. Dieser Einwurf geht vom Gegenstande aus und hat somit recht.
