Zweiter Artikel. Die Vermögen der Seele sind weit mehr Sitz von Zustanden wie das Wesen der Seele selbst.
a) Das Gegenteil scheint wahr zu sein. Denn: I. Verfassungen und Zustände werden ausgesagt gemäß der Beziehung auf die Natur des betreffenden Dinges. Die Natur aber wird mit mehr Recht erwogen auf Grund des Wesens der Seele wie auf Grund ihrer Vermögen; denn gemäß ihres Wesens ist die Seele die bestimmende Natur des Körpers und seine Wesensform. Die Zustände also sind in der Seele gemäß dem Wesen derselben und nicht gemäß deren Vermögen. II. Eine zum Wesen hinzutretende Eigenschaft hat nicht ihren Sitz und ihr Sein in einer anderen solchen Eigenschaft. Nun ist aber der „Zu stand“ eine derartige Eigenschaft; und die Vermögen der Seele sind desgleichen solche Eigenschaften. Also nicht die Vermögen, sondern das Wesen der Seele sind für die Zustände Sitz und Träger. III. Um von etwas Sitz oder Träger zu sein, muß das, was Sitz oder Träger sein soll, früher sein wie das, wovon es Sitz oder Träger ist. Der „Zustand“ aber gehört zur ersten Gattung der Seinsart „Eigenschaft“; das „Vermögen“ zur zweiten. Also ist das „Vermögen“ nicht Sitz oder Subjekt von „Zuständen“. Auf der anderen Seite verlegt Aristoteles (1 Ethic. ult.) verschiedene Zustände in die verschiedenen Vermögen der Seele.
b) Ich antworte, daß der „Zustand“, wie Kap. 49, Art 2. und 3. gesagt worden, eine gewisse bestimmende Verfassung einschließt im Verhältnisse zur Natur oder zur Thätigkeit. Insoweit also ein Zustand in Beziehung steht zur Natur des betreffenden Seins, kann er nicht in der Seele sein, vorausgesetzt daß es sich um die menschliche Natur handelt; denn die Seele selbst ist eben die Wesensform, welche die menschliche Natur bestimmend vervollständigt und vollendet. Demnach kann ein Zustand mit größerem Recht im Körper sein kraft dessen Beziehung zur Seele wie in der Seele kraft ihrer Beziehung zum Körper; denn der Körper stellt das bestimmbare Moment vor. Ist aber die Rede von einer höheren Natur, an welcher die Seele Anteil haben kann nach 2. Petr. I.: „Daß wir haben Anteil an der göttlichen Natur,“ so steht dem nichts entgegen, daß in der Seele, auch gemäß ihrem Wesen, ein Zustand sei; nämlich die Gnade, wie unten Kap. 110. gesagt werden wird, denn die Seele ist dann etwas Bestimmbares. Nimmt man jedoch die Zustände in ihrem Verhältnisse zum Thätigsein, so werden im höchsten Grade sie in der Seele vorgefunden, insofern die Seele nicht allseitig bestimmt ist für eine einzige Wirksamkeit, sondern für verschieden geartete; wozu, wie oben gesagt, Zustände erfordert werden, die mehr nach einer bestimmten Seite die Thätigkeit richten. Und weil die Seele das Princip für ihre Thätigkeiten ist vermittelst ihrer Vermögen, deshalb sind dem angemessen die Zustände in der Seele gemäß ihren Vermögen.
c) I. Das Wesen der Seele gehört zur menschlichen Natur; nicht aber wie ein bestimmbares Subjekt, das erst in die richtige Verfassung gebracht werden muß zu etwas Anderem hin, sondern wie die bestimmende Wesensform und die Natur, zu der hin etwas vielmehr in die richtige Verfassung gebracht werden muß. II. Eine zum Wesen hinzutretende Eigenschaft kann an und für sich nicht Träger oder Subjekt einer anderen solchen hinzutretenden Eigenschaft sein. Weil aber unter derartigen Eigenschaften eine gewisse Ordnung herrscht, so wird das Subjekt nicht selten insofern aufgefaßt als Träger der einen hinzutretenden Eigenfchaft als es Träger einer anderen ist; wie z. B. der Körper Träger und Subjekt der Farbe ist, weil er Subjekt und Sitz der Oberfläche ist und so wird gesagt, die Oberfläche sei Subjekt der Farbe. In dieser letzteren Weise nun heißt es, das Vermögen sei Träger von Zuständen. III. Soweit der „Zustand“ eine Verfassung in sich einschließt, die sich auf die Natur richtet, steht er vor dem Vermögen; denn das „Vermögen“ schließt die Beziehung auf die Thätigkeit in sich ein, die ja später ist, da die Natur als ihr Princip dasteht. Soweit aber der „Zustand“ seinen Sitz in einem Vermögen hat und somit nicht die Beziehung zur Natur, sondern zur Thätigkeit in sich einschließt, ist er später als das „Vermögen“. Oder es kann geantwortet werden, der „Zustand“ stehe vor dem „Vermögen“ wie das Vollendete dem Unvollendeten vorangesetzt wird und die Thätigkeit dem Vermögen. Denn der Natur oder dem Zwecke nach ist die Thätigkeit früher, als das Vermögen dazu; wenn auch auf dem Wege des Erzeugens und der Zeit nach das Vermögen früher ist wie die Thätigkeit.
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